Kolumne Klatsch: Provinz ist, wo es kracht

Ich wohne direkt an einem „Unfallschwerpunkt“. Leichtverletzten servieren wir Schwarztee.

Ich bin ein Provinzheini. Alle meine Versuche, in Großstädten heimisch zu werden, sind gescheitert. Vielleicht waren es die falschen Großstädte, aber in Stuttgart, Köln und München ist es mir nicht gelungen, so etwas wie ein Hier-will-ich-bleiben-Gefühl zu entwickeln.

Ach, hören Sie mir doch mit Berlin und Hamburg auf! Die eine Stadt meide ich aus allergischen Gründen (rumänische Ziehharmonikaspieler in der U-Bahn) und die andere ist so langweilig, dass ich mich nach zwei Tagen schon wieder nach Kirchentellinsfurt sehne. Da ist mehr los. Das gefällts mir besser. Da krachts. Jedenfalls vor meiner Haustüre. Ich wohne nämlich an der unfallträchtigsten Kreuzung im ganzen Landkreis. Von fast allen Fenstern unserer Wohnung sieht man auf diese Kreuzung, auf der jeden Tag rund 30.000 Autos versuchen, berührungsfrei aneinander vorbeizukommen. Solange die Ampeln eingeschaltet sind, funktioniert das auch meist.

Da hören wir dieses Geräusch „Quiedong“ relativ selten. Quiedong hört sich nach fernöstlichem Meditationstraining an. Aber das Quie kommt von den Autoreifen, die auf dem Asphalt schleifen. Das Dong vom Aufprall. Kürzlich war morgens im Berufsverkehr und bei Nebel die Ampel ausgefallen. Ich hatte keinen wichtigen Termin und stellte mich ans Fenster, um die Minuten zu zählen bis Quiedong. Es kracht eigentlich immer, wenn die Ampel ausfällt. Es waren keine drei. Leider war mein Sohn schon in der Schule. Er liebt Autounfälle. Mit seiner Stoppuhr führt er seit zwei Jahren eine Statistik über die Zeit zwischen Quiedong und dem Eintreffen von Polizei, Krankenwagen, Feuerwehr und Abschleppdienst. 23 Minuten ist der Negativrekord. Merkwürdigerweise ist manchmal der Abschleppwagen der Erste an der Unfallstelle, noch vor Polizei und Notarzt. Als ob es das Wichtigste wäre, die Kreuzung schnell wieder für den nächsten Quiedong freizubekommen. Wir erklären uns das so: Im Kampf um die wehrlosen Opfer hören die Abschleppfirmen heimlich Polizeifunk ab und liefern sich ein Rennen zur Unfallstelle

Vor wenigen Tagen, wir saßen gerade beim Abendessen, das berühmte Geräusch. Sehr kurzes Quie und umso lauteres Dong. Ein Blick aus dem Küchenfenster ergab eine eindeutige Analyse: Trotz eingeschalteter Ampel hatte mal wieder eine Fahrerin den entgegenkommenden Abbiegeverkehr nicht beachtet. Die Fahrzeuge standen verkeilt auf der Kreuzung, Kühlwasser floss aus den Motoren auf die Straße und ein Mann hielt sich ein Taschentuch an die blutende Nase. Keine Schwerverletzten.

In einem solchen Fall läuft bei uns „Programm B“ ab. B wie Blechschaden. Meine Frau setzt heißes Wasser für den Tee auf, Sohn und ich rennen die Treppe hinunter, angeblich um zu helfen, tatsächlich aber nur um zu glotzen. Der Trick mit dem Tee fiel meinem Sohn ein. So konnte er unter dem Vorwand, hilfsbereit zu sein, alle seine neugierigen Fragen stellen: „Wie ist das passiert? Tut Ihnen die Nase weh? Was wird die Reparatur ungefähr kosten?“ Der Mann mit der blutenden Nase und die Frau mit dem auslaufenden Kühlwasser lehnten allerdings das Angebot einer heißen Tasse Tee dankend ab. Die meisten lehnen ab. Man hat in solchen Situationen offenbar keinen Durst. Stattdessen telefonieren Unfallopfer wie Unfalltäter wie wild in der Gegend herum. Wahrscheinlich informieren sie alle ihre Verwandten und Freunde, dass sie gerade einen Unfall hatten. Ist ja auch aufregend.

Statistisch betrachtet passiert in Deutschland alle 14 Sekunden ein Verkehrsunfall. Aber in Hamburg, Berlin und Stuttgart habe ich noch nie einen gesehen. Provinz ist, wo es kracht. Daran gemessen, wohne ich am Nabel der Welt. Tote sahen wir zum Glück noch nie vor unserem Küchenfenster. Bisher noch nie. Für diesen Fall haben wir keinen Plan.

Fragen zu Unfällen? kolumne@taz.de Montag: Jan Feddersen PARALLELGESELLSCHAFT

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