Letzter Veteran des Ersten Weltkriegs: Der letzte französische Poilu

Lazarro Ponticelli meldete sich 1914 zur französischen Fremdenlegion. Jetzt ist der frühere Straßenjunge aus Italien mit 110 Jahren der letzte lebende französische Veteran des Ersten Weltkriegs.

Lazarro Ponticelli, 110 Jahre alt. : rtr

Piccolo, wohin geht die Reise?" fragt eine Dame den Jungen im Zug. "Ins Paradies", antwortet er. "Hoffentlich wird es keine Hölle", sagt die Dame.

Lazarro Ponticelli ist neuneinhalb Jahre alt. Der Bauernjunge ist zum ersten Mal von den ligurischen Bergen herabgestiegen, wo er Singvögel eingefangen und auf dem Wochenmarkt verkauft hat. Er hat nie eine Schule von innen gesehen, nie eine elektrische Lampe. Er reist im Zug nach Paris. Im Jahr 1906 kommt er am Gare de Lyon an. Er wird sich als Straßenjunge durchschlagen, als Schornsteinfeger und Zeitungsjunge. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, meldet er sich zur Fremdenlegion.

Jetzt ist er mit 110 Jahren und einem Monat der letzte Poilu: Der letzte lebende französische Veteran der vierjährigen Schlachten in Europa, bei denen 9 Millionen Männer starben. Alle anderen Poilus sind tot. Der letzte starb vergangenen Sonntag. Aber Ponticelli, der Pass und Vornamen vor Jahrzehnten französisierte, geht weiterhin auf seinen zwei Beinen. Er lebt in einem Reihenhaus in Kremlin-Bicêtre am Südrand von Paris. Und er hat einen Kopf, der noch klar genug ist, um die nationale Ehrung, die ihm jetzt bevorsteht, abzulehnen: "Eine Beleidigung für die ersten gefallenen Poilus." Seine Tochter Jeanine will demnächst Staatssekretär Alain Marleix treffen. Sie soll dem für Veteranen zuständigen Politiker die Bedingungen erklären, unter denen Ponticelli eine Zeremonie akzeptieren würde: "Es müssen alle Poilus geehrt werden."

Wie Millionen andere ehemalige Soldaten kam Ponticelli als Kriegsgegner aus den Schlachten zurück. "Kriege werden immer von denen provoziert, die selbst nicht mitkämpfen und keinen Wert haben", erklärte er vor vier Jahren in einem Interview. Den Kontakt mit Frankreichs Veteranenverbänden, die kulturelle und politische Aktivitäten organisieren, hat er immer vermieden: "Die erzählen vor allem Heldengeschichten aus Schützengräben." Nur am 11. November, dem Jahrestag der deutschen Kapitulation 1918, ist er jedes Jahr zum Monument aux Morts in seiner Gemeinde gegangen. Während Politiker dort Kränze niederlegen und von Patriotismus reden, gedenkt Ponticelli seiner toten Kameraden, die er zuletzt mit vom Gas aufgeblähten Körpern und abgefetzten Gliedmaßen sah. "Man kann kein Patriot sein", sagt er, "wenn man einen Krieg gemacht hat, ohne zu wissen warum."

Im Dezember nahm Ponticelli wie jedes Jahr an der Aktionärsversammlung des Unternehmens für Industrierohre teil, das er mit zwei Brüdern gegründet hat. Das Straßenkind ohne Schulbildung wurde nach dem Krieg Unternehmer.

DOROTHEA HAHN

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