Jogi Löws neue EM-Taktik: Eine Frage der Ehre
Bundestrainer Joachim Löw hat taktische Trends im Weltfußball ausgemacht. Um seine Mannschaft zu motivieren, setzt er auf ihr Ehrgefühl.
Der Schwung ist dahin. In sommermärchenhaften Erinnerungen schwelgt niemand mehr im DFB-Tross. Aus den drittplatzierten Siegern der Heim-WM ist wieder eine normale Nationalmannschaft geworden. Die hat sich zwar souverän für die EM in diesem Frühsommer qualifiziert, euphorisch hat die Öffentlichkeit darauf indes nicht reagiert. Dass eine deutsche Nationalmannschaft bei einer Europameisterschaft dabei ist, nun ja, das war immer so - auch in den schlechten, alten Rumpelfüßlertagen. Oliver Bierhof, dem Manager der Nationalmannschaft, ist es jedenfalls gar nicht geheuer, dass das Turnier so wenig präsent ist, so kurz bevor es beginnt. Das Länderspiel am Mittwoch gegen Österreich (20.35 Uhr, ARD) soll dafür sorgen, dass die EM-Kampagne der Nationalmannschaft ein wenig Fahrt aufnimmt. Ob der Test das deutsche Team sportlich weiterbringt, daran scheint selbst der Bundestrainer so seine Zweifel zu haben.
Der präsentierte sich, als er nach der Winterpause zum ersten Mal wieder vor die Presse trat, ein wenig grüblerisch. Er hat den Weltfußball beobachtet und festgestellt, dass es in etlichen Teams einen neuen taktischen Trend gibt. Das Spiel mit einem Fünfermittelfeld, mit lediglich einem Stürmer davor, kommt mehr und mehr in Mode. Bei der Copa America hat Löw das beobachtet und auch bei etlichen Vereinsmannschaften in den Europapokalwettbewerben. "Wir müssen jetzt überlegen, wie wir gegen so ein dichtes Mittelfeld spielen", sagte er bei einem Medienworkshop in Frankfurt. "Wir müssen daran arbeiten, dass wir im Turnier flexibler reagieren können", fügte er hinzu. Doch eines will er nicht, dem Trend, den er beobachtet hat, folgen. "Bei uns gibt es das klare Bekenntnis zu zwei Stürmern", stellte er klar. Joachim Löw hat mit Jürgen Klinsmann das 4-4-2 als das typisch deutsche Fußballsystem etabliert. Und dabei soll es bleiben. Basta.
Natürlich hat Löw schon mehr als eine Ahnung davon, wer seine Idee vom Spiel letztlich umsetzen soll. Nur Zeit zum Einüben der Abläufe hat er nicht allzu viel. Christoph Metzelder und Torsten Frings, sicher zwei seiner Stützen, werden erst wieder nach Ende der Ligasaison mit dem Nationalteam trainieren können. Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski könnten gut mehr Zeit mit dem Nationalteam gebrauchen. Dort sind sie gesetzte Größen - bei den Bayern ist dies derzeit nicht der Fall. Bevor sich das Team am 19. Mai auf den Weg zum Vor-EM-Trainingslager nach Mallorca macht, gibt es noch einen Länderspieltermin (26. März in Basel gegen die Schweiz) mit ein paar Übungstagen. Die Fitnesstests, die bei den Vereinstrainern vor der WM bisweilen heftigst kritisiert wurden, sind abgeschafft. Löw und sein Team müssen auf die Daten der Vereinsärzte zurückgreifen. Die Auswahlspieler sollen als "selbstverantwortliche Athleten" die Zusatzeinheiten als eine Art Hausaufgabe erledigen. Kontrolle gibt es nicht, allein der Appell an das Ehrgefühl der Spieler soll für Motivation sorgen. Löw: "Wir müssen ihnen sagen: Ihr seid die Elite des deutschen Fußballs."
Immerhin ist einer wieder dabei, der seit dem 24. März 2007 (2:1 in Prag gegen Tschechien) nicht mehr für Deutschland gespielt hat. Michael Ballacks Comeback soll mit dazu beitragen, die Mannschaft in EM-Stimmung zu bringen (Bierhoff: "Wir müssen uns alle aufrappeln."). Auch der Kapitän, ohne den die Nationalelf lange überraschend gut und zuletzt bisweilen arg schlapp aufgetreten ist, verwies vor dem Test in Wien auf die Verantwortung der Auswahlspieler im Hinblick auf die EM. Es sei "unabdingbar, dass jeder Einzelne an sich arbeitet".
An der EM-Stimmung wird derweil auch woanders gearbeitet. Von einem EM-Fieber in Deutschland wird derzeit wohl kaum einer sprechen, die Temperatur indes scheint zu steigen. Gestern verkündete die Evangelische Kirche Deutschland, dass es wie zu WM-Zeiten wieder Public-Viewing-Angebote in ihren Kirchengemeinden geben soll. Oliver Bierhoff wird es mit Wohlwollen vernommen haben.
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