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Hintergrund SS-RomanHitler sells

Die Aufregung um Jonathan Littells kommende Woche erscheinenden SS-Roman beweist, Verkitschung von NS-Debatten ist möglich. Ein - sachliches - Interview mit zwei Experten zum Thema.

Der Stoff aus dem Bestseller sind: Hitler beim Autokorso mit Paul von Hindenburg 1933 Bild: ap
Interview von Georg Diez

taz: Nikolaus Wachsmann, wann haben Sie zuletzt an Hitler gedacht?

Nikolaus Wachsmann: Gestern, als ich mich auf unser Gespräch vorbereitet habe. Und mein Buch "Gefangen unter Hitler" trägt ja den Namen schon im Titel. In England oder Amerika oder Israel hat übrigens niemand etwas dazu gesagt - aber bei jedem Vortrag in Deutschland wurde ich darauf angesprochen. Als sei das unanständig.

Ist es das?

Wachsmann: Vielleicht wirkt es in Deutschland wie eine Verknoppung der Geschichte, wie Sensationalisierung. In England ist es eher eine Abkürzung, eine Chiffre für das "Dritte Reich".

Was für eine Präsenz hat denn Hitler in Ihrem Leben?

Wachsmann: Der Hitler-Biograf Ian Kershaw ...

... einer Ihrer Mentoren.

Wachsmann: ist mal gefragt worden, ob er denn von Hitler träume. Er antwortete immer, wenn ihm etwas schlaflose Nächte bereite, dann nicht Hitler, sondern wenn Manchester United verliert. Ich beschäftige mich viel mit Hitler, mein Leben dreht sich aber nicht nur um Hitler.

Kevin Vennemann: Ihr Buch ja, zum Glück, auch nicht. Die These, dass Hitler über allem stand und alle nur hinterhergelaufen sind, widerlegt ihr Buch einmal mehr. Ich habe es eher als Versuch gelesen, das zu beschreiben, was mit einem Rechtsstaat passiert, der pervertiert wird - nicht von einem einzigen, sondern von tausenden von Tätern.

Auch Sie haben über Verbrechen geschrieben, die in Hitlers Namen geschehen sind, Kevin Vennemann - wann haben Sie den Namen Hitler zum ersten Mal gehört?

Vennemann: Das erste, was ich von Hitler wusste, war merkwürdigerweise, dass er sich umgebracht hat. Ich habe meine Eltern also gefragt, warum er das denn getan hat - und erst dann erfahren, dass er vorher schon Millionen andere Menschen umgebracht hat.

Wann war das?

Vennemann: Da war ich wohl so sechs Jahre alt.

Leben wir eigentlich tatsächlich, wie es Saul Friedländer gesagt hat, immer noch im Schatten Hitlers?

Vennemann: Ich denke wenig an Hitler - eher an den FC Liverpool. Und schlafe trotzdem gut.

Was war dann aber der Grund, Kevin Vennemann, dass Sie über Hitlers Zeit einen Roman geschrieben haben - und sich deutlich entfernt haben vom Harmlosigkeitsgeschreibe vieler Kollegen?

Vennemann: Mich hat bei der Arbeit an meinem ersten Roman "Nahe Jedenew" weniger Hitler interessiert als das abstrakte Phänomen des Antisemitismus - der, und das ist ja kein Geheimnis, nicht 1933 begonnen hat und 1945 zu Ende war. Mich haben diese Kontinuitäten des europäischen Antisemitismus beschäftigt, die immer selben Vorurteile und Verfolgungen, beginnend im neunten Jahrhundert, ins Immense gesteigert durch den biologischen Wahn in Deutschland. Ich wollte das einfach verstehen.

Trotzdem spielt der Roman konkret in Polen, im September 1941.

Vennemann: Aber ich lese das eben nicht ausschließlich als Holocaust-Geschichte, sondern eher als allgemeingültige Parabel, ein Paradebeispiel der Funktionsweise des Antisemitismus.

Wachsmann: Ich fand genau das spannend an dem Buch: dass sich jemand in unserem Alter mit diesem Thema beschäftigt. Und zwar aus einer ganz anderen Perspektive als bisher, aus der Sichtweise der jüdisch-polnischen Kinder. Die Deutschen tauchen in dem Buch kaum auf. Es geht eher um die Frage nach dem Zusammenleben der Polen und der jüdischen Polen. Von Nachbarn also.

Das könnte man dem Buch ja sogar zum Vorwurf machen: dass die Frage der Schuld oder der Täter ausgeblendet wird.

Vennemann: Die Schuldfrage ist historisch geklärt, sie muss also nicht mehr Thema sein. Es ist in dem Roman immer klar, dass Soldaten einmarschieren, die vermutlich die Wehrmacht sind und die der polnischen Bevölkerung alle Mittel und Möglichkeiten geben, gegen die jüdische Minderheit vorzugehen. Das sind historische Fakten, mit denen ich mich nicht auseinandersetzen muss.

Und weil die Schuld kein Thema mehr ist, ist Ihr Ansatz vor allem ein literarisch-ästhetischer.

Vennemann: Ich habe dieses Buch geschrieben, um etwas zu sagen über die Unmöglichkeit zu verstehen. Was geht letztlich in diesem Moment vor, in dem Moment der Tat, im Moment des Pogroms? Ich habe versucht, das zu fassen, was nicht zu fassen ist.

Da muss der Historiker eigentlich intervenieren.

Wachsmann: Wir könnten jetzt natürlich Debatten über die Postmoderne anfangen, unser aller Kindernahrung. Klar ist doch, dass wir Historiker versuchen zu beschreiben, wie und warum das passiert ist. Dass man nie an "die" Geschichte herankommt als objektive Wahrheit, das ist aber, bei allen Quellen und Dokumenten, auch klar. Wir nähern uns der Wahrheit an.

Was hat denn der Historiker Wachsmann aus Vennemanns Roman gelernt?

Wachsmann: Es gibt ein Buch von Jan Gross, der in Princeton lehrt, das heißt "Nachbarn" und beschreibt ein Massaker der polnischen Bevölkerung an der jüdischen Minderheit in einer Kleinstadt im Juli 1941, kurz nachdem die deutschen Truppen mordend in Osteuropa eingefallen waren. In Polen hat das Buch große Wellen geschlagen, weil es das Selbstverständnis des Landes infrage gestellt hat. Plötzlich tauchten da einige polnische Menschen als Täter oder Mittäter auf. Aus dieser Perspektive habe ich auch Vennemanns Roman gelesen - der mir aber etwas Zusätzliches geöffnet hat, weil man diese Geschichten selten aus der Sicht der Opfer, der Betroffenen, liest. Vennemann geht auch nicht chronologisch vor, sondern sehr sprunghaft und bruchstückhaft, was die grundsätzliche Frage aufwirft, wie Geschichte erlebt und erinnert wird im Augenblick, da sie sich ereignet, erlebt und erinnert wird.

Macht es Sie nervös, dass Ästhetisierung und Trivialisierung so dominant sind in der Geschichtsschreibung?

Wachsmann: Anders gesagt: In Deutschland werden die Debatten eher von Personen losgetreten, die nicht im wissenschaftlichen Geschichtsbetrieb arbeiten - das könnte auf ein Defizit hinweisen, Historiker könnten sich vielleicht mehr einmischen. In England ist die Tradition da ganz anders, die populäre Art, Geschichte aufzuschreiben, hat dort keinen schlechten Ruf. Wenn Sie das so beschreiben, hier das eine Lager, dort das andere Lager, dann ist es die Aufgabe der wissenschaftlichen Historiker, aus ihrer eigenen, etwas kleinen Welt auch mal herauszukommen. Ich sehe da durchaus ein Defizit.

Sind die Fiktionen manchmal überlegen? So könnte man vielleicht auch den großen Erfolg von Jonathan Littell erklären, Ende 30 und damit fast ein Altersgenosse. In Frankreich wurde sein aus der Ich-Perspektive geschriebener Roman über einen SS-Offizier ein Bestseller, in Deutschland, wo er kommende Woche herauskommt, ist die Aufregung auch bereits groß.

Vennemann: Auch Jörg Friedrich und Götz Aly haben mit steilen Thesen an brachliegende Emotionalitäten gerührt - das waren Sensationsbücher für eine sensationshungrige Zeit. So ist das mit Littell auch. Dessen Täterprosa vereint alles Potenzial des Bösen, das auch Hitler immer noch so attraktiv macht.

Wachsmann: Die Täterfrage ist besonders im letzten Jahrzehnt immer wichtiger geworden. Natürlich hat man sich auch früher mit den Tätern beschäftigt, gerade vor Gericht - aber die historische Literatur versucht heute, den Tätern näherzukommen, und zwar auf eine sehr viel differenziertere Form als vor 30, 40 Jahren. Richtungsweisend war hier Christopher Brownings Buch "Ganz normale Männer": Hier werden die Mörder nicht als reine Bestien geschildert und nicht als banale Schreibtischtäter. Gerade in Deutschland hat sich seit Brownings Buch in der Täterforschung unheimlich viel getan. Es kann sein, dass das auch etwas mit einer Generationenablösung zu tun hat. Vielleicht ist es einfacher, Tätergeschichte zu schreiben in einer Gesellschaft ohne Täter.

Weil wir bald ohne Zeitzeugen leben werden.

Vennemann: Wäre denn dann das Pendant zur Tätergeschichtsschreibung eine deutsche Familiengeschichtsschreibung? Es gibt ja auch sehr viele literarische Ansätze, wo es vor allem um die Frage geht, was hat der eigene Großvater, was die eigene Großmutter Schreckliches getan - bei der die Bewältigungs- oder Erinnerungsarbeit reduziert wird auf etwas sehr Individualistisches.

Wachsmann: Daran ist interessant, dass das für uns, für unsere Generation natürlich trotzdem eine weniger direkte persönliche Beziehung ist. Ich habe meine Großväter nicht mal kennengelernt. Wir haben also automatisch eine Distanz zu diesen Verbrechen.

Vennemann: Deswegen lehne ich diese Art des persönlich-emotionalen Erzählens ja auch ab. Diesen Generationenroman. Dieses Bedürfnis zu klären, was der Großvater getan hat, um die persönlichen Verstrickungen zu beleuchten. Was absurd ist. Ich sehe da keine irgendwie blutsmäßig eingeschriebene Notwendigkeit. Man hat nur zufällig den gleichen Pass.

Dabei wären die Lügen, die Verdrängungen, die Neurosen der Familien doch gerade für Schriftsteller reiches Material.

Vennemann: Mein Antrieb fürs Schreiben ist einfach nicht, dass an dem Elternhaus meiner Eltern vermutlich die Hakenkreuzflagge gehangen hat.

Und genau das irritiert an Ihrem Buch - weil man sich fragt, aha, was arbeitet der denn da auf.

Wachsmann: Das ist bei mir als Historiker doch nicht anders - sonst hätte ich ein Buch über meinen Großvater geschrieben. Es geht einfach nicht um eine psychologische Familienaufarbeitung. Diese Frage hat sich für die Generation unserer Eltern noch anders gestellt. Aber auch gesellschaftlich hatte es eine andere Dimension, inmitten der Täter und der Opfer aufzuwachsen, Globke im Kanzleramt - und bei uns geht es nicht mehr um Filbinger, sondern um einen Ministerpräsidenten, der Unsinn über Filbinger redet.

Genau das ist das Besondere an Ihren Büchern - Sie lösen sich von der Selbstbespiegelung der Neunzigerjahre und auch von der Betroffenheit der Achtziger.

Vennemann: Weil diese beiden Richtungen jede Aufklärung verhindert haben. Es ist ja vollkommen in Ordnung, fürchterlich entsetzt zu sein von dem, was passiert ist - aber zu welchem Zweck, wohin führt das? Viele Schüler heute werden sich, zu Recht, fragen, warum sie das mit Hitler immer noch lernen sollen, wenn ihnen nicht der Bezug zur Gegenwart klargemacht wird: Dass das Ressentiment eben weiterlebt. Dieser Schritt, der oft fehlt, darum geht es mir: Am 8. Mai 1945 hat das Morden aufgehört, nicht aber das dazugehörige Denken.

Ihr Buch "Nahe Jedenew" erschien kürzlich in Polen.

Vennemann: Und mir war etwas unangenehm dabei. Die erste Übersetzerin hatte das Buch abgelehnt, weil es ihr zu sehr um polnische Schuld ging und um polnische Täter. Ich wollte damit aber gar nichts relativieren. Aber manches bleibt in diesem Roman wohl tatsächlich etwas vage oder missverständlich - und auch aus diesem Gedanken heraus habe ich meinen zweiten Roman geschrieben, "Mara Kogoj". Hier geht es eben um die Kontinuitäten der Geschichte, die Kärnten bis heute prägen.

Sie wollten ein paar Dinge klarstellen.

Vennemann: Und merkte plötzlich, wie sehr ich emotional hineingezogen wurde. Ich habe ja keinerlei biografische Verbindung zum Thema Kärnten. Anfangs habe ich recht naiv ein paar Dinge geschrieben, bei denen meine Freunde, Kärntner Slowenen oder Leute aus der Opposition, gesagt haben, wow, uns würden diese Sätze in ein oder zwei Wochen zerstören. Aber je mehr ich recherchiert habe und Quellen gelesen habe, desto mehr war ich auf einmal selbst Partei.

Da war Schuld doch ein Thema?

Vennemann: Ich schreibe darüber nicht, weil ich einen deutschen Pass habe. Es gibt für mich keine Scham. Mir ist durchaus bewusst, dass ich nichts getan habe. Meine Verpflichtung ist als Mensch, nicht als Deutscher.

Herr Wachsmann, Sie sind nach England gegangen - und forschen über deutsche Täter. Hat Sie das Land nicht losgelassen?

Wachsmann: Das war kein Plan, das hat sich so im Lauf der Jahre ergeben. Und für einen Zeithistoriker, ob er einen deutschen Pass hat oder nicht, ist das Dritte Reich nun mal ein zentrales Thema.

Hätten Sie ein anderes Buch geschrieben, wenn Sie in Deutschland geblieben wären?

Wachsmann: Man entwickelt schon einen anderen Stil und eine andere Perspektive. In Deutschland hat man sich zum Beispiel viel mit spezifischen Erscheinungen des NS-Terrors wie den Konzentrationslagern beschäftigt, und das war auch wichtig. Dabei hat man aber das vermeintlich "normale" Gefängniswesen fast komplett vergessen. Und doch sind dort meistens sehr viel mehr Menschen eingesperrt worden als in den KZs.

Ist das eine Akzentverschiebung in der historischen Forschung?

Wachsmann: Auf jeden Fall. Im Strafvollzug saßen ja nicht nur politische Gefangene, sondern auch Kriminelle, Handtaschendiebe, Einbrecher und Mörder. Mit denen wollte man lange Zeit nichts zu tun haben, auch weil man nicht sicher war, was es für das Gesamtbild des "Dritten Reiches" bedeutet, wenn man auch diese Gruppen als Opfer anerkennt. Aber Verbrechen an Verbrechern sind auch Verbrechen. Vielleicht wird es für unsere Generation eher möglich sein, über bestimmte Tabuthemen zu schreiben - ich denke hier auch an die Kapos in den KZs -, weil man keinen Überlebenden mehr Leid antut, bei diesen moralisch doch sehr schwierigen Fragen.

Relativierung ist dabei immer noch eine Gefahr.

Wachsmann: Die politische Instrumentalisierung der Geschichte, das ist das Problem - Saddam als zweiter Hitler oder die Holocaustleugner. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mache, was ich mache: um diesen Geschichtsklitterern und -fälschern entgegenzutreten.

Wie haben Sie denn für Ihren Roman in Kärnten recherchiert - in der Heimat der Geschichtsfälschung sozusagen.

Vennemann: Ich bin dort sehr viel gewandert, um Klagenfurt herum und in den Karawanken. Und ich war sehr beeindruckt vom Engagement der Opposition dort - wie sehr man dort tagtäglich damit beschäftigt ist, die Kontinuitäten aufzuzeigen und gegen die Geschichte anzukämpfen. Wobei diese Opposition vor allem aus Tirolern, Wienern, Niederösterreichern und ein paar Deutschen besteht. Für die Kärntner Slowenen geht das eben doch immer noch zu tief. Da hat sich im Grunde sehr wenig verändert. Ich wurde oft auf slowenischen Höfen zur Cremeschnitte eingeladen - nach spätestens zehn Minuten kam immer das Gespräch auf den Partisanenkampf.

Dort ist die Geschichte tatsächlich lebendig und eine Wunde - wie wurde das Buch denn in Österreich rezipiert?

Vennemann: In Kärnten selbst war es überwältigend, bei der Lesung waren 250 Leute, zwei steinalte Partisanen haben mir ihre Memoiren überreicht und waren sehr gerührt.

Wachsmann: Haben Sie eine Verantwortung beim Schreiben gespürt, der Geschichte gerecht zu werden?

Vennemann: Den Anspruch habe ich sehr schnell über Bord geworfen. Ich weiß ja nicht genau, was dort passiert ist beim Massaker auf dem Perschmannhof, von dem in "Mara Kogoj" erzählt wird. Selbst die Leute dort wissen nicht, was sich damals wirklich zugetragen hat: Waren es nun die Partisanen oder die SS? Aber ich kann natürlich über die latent repressiven Denk- und Sprechweisen in der Gesellschaft ein paar Wahrheiten verbreiten.

Das unterscheidet Sie aber vom Sendungsbewusstsein der 68er: Martin Walser hat über die "Blechtrommel" gesagt, das sei der letztmögliche antifaschistische Roman. Das ist noch ein Selbstverständnis.

Wachsmann: Na prost Mahlzeit.

Vennemann: Das ist doch eher eine beängstigende Vorstellung.

Wachsmann: Für den Historiker kann es dieses Selbstverständnis auch gar nicht geben. So ein vorgefasster Auftrag bringt uns nicht weiter. Die damalige Verengung des Blickwinkels auf den Antifaschismus ist historisch verständlich und moralisch ehrenwert, führt aber zwangsläufig zu einem begrenzten Verständnis der Geschichte, mehr politisiert als differenziert. Und das ist auch der Grund, warum fast alle wichtigen Arbeiten erst seit den Achtzigerjahren, in einem anderen gesellschaftlichen Klima, geschrieben wurden - und eben nicht direkt nach 1968.

Das Wort Moral spielt was für eine Rolle?

Vennemann: Moral finde ich schon eine tolle Sache. Ich finde auch erhobene Zeigefinger toll.

Wachsmann: Es ist natürlich auch nicht so, dass es mit dem Ableben der Zeitzeugen keine moralischen oder ethischen Fragen mehr gäbe.

Vennemann: Was wäre die Alternative? Zynismus, Kälte, Satire.

Wachsmann: Der Ton wird sich schon ändern. Die Auseinandersetzung ist nicht mehr so persönlich, deshalb kann die Debatte etwas nüchterner werden. Die Kehrseite ist: Trivialisierung und Kitsch und der Fall der Schamgrenzen. So ging es mir beim "Untergang", wo es überhaupt nicht mehr moralische Fragen ging oder um eine Auseinandersetzung mit der Geschichte - sondern um Gruselentertainment, Jahrmarktnazihorrorkitsch, Nazitainment. Und vielleicht wird sich das noch verstärken in einer Zeit, in der die Überlebenden nicht mehr da sind.

Vennemann: Softporno mit Hitler gab es schon in den Siebzigerjahren.

Wachsmann: Aber nicht im Multiplex um die Ecke. Und das Publikum, das viele Geschichtssendungen bedienen, ist eines, das von der Faszination des Bösen angetrieben wird. Charles Manson, Adolf Hitler

Vennemann: Beim Schreiben geht es mir genau um das Gegenteil: Ich will die Emotionalität heraushalten, fast nüchtern setze ich die Struktur - auch im Wissen um die Unmöglichkeit, das Unmögliche zu schildern. Woran ja zum Beispiel Celan zugrunde gegangen ist.

Wachsmann: Mir ist eine gewisse Emotionalität wichtig. Aber ich will dem Leser nicht an jedem Punkt explizit sagen, wie er sich zu fühlen hat. Es geht aber in meinem Buch schon um Leute, die seit 60, 70 Jahren vergessen wurden. Deshalb habe ich auch Einzelschicksale eingebaut. Aber ich will dem Leser nicht an jedem Punkt explizit sagen, wie er sich zu fühlen hat.

Haben Sie denn die Debatte um Grass und die SS verfolgt?

Vennemann: Ich gar nicht. Ich war in den slowenischen Bergen und habe geschrieben. Aber Grass hat für mich auch nicht die große Bedeutung wie vielleicht für eine andere Generation.

Wachsmann: Ich fand es eher interessant mal wieder zu überlegen, was es über Deutschland aussagt, dass es immer wieder diese Erinnerungslawinen gibt, die sich ihre Schneisen schlagen im Medienwald. Das Buch von Grass habe ich angefangen zu lesen und irgendwann weggelegt, mir hat das nichts Neues gesagt über Jugend im "Dritten Reich" oder Aufwachsen in totalitären Gesellschaften.

Ein Satz, der Sie beide irritieren müsste, war, dass man nichts dazu sagen könne, wenn man nicht selbst dabei gewesen ist.

Vennemann: Heißt das, dass man dabei gewesen sein muss, das Falsche sagen kann - und das ist dann trotzdem in Ordnung?

Wachsmann: Natürlich irritiert mich das, schließlich schreiben fast alle Historiker über etwas, das sie nicht selbst erlebt haben. Es wird in unserer Generation keine Zeitzeugen mehr geben - wird deshalb der berüchtigte Schlussstrich gezogen? So wird es nicht kommen, die Geschichte wird weitergeschrieben werden und umgeschrieben und neu verstanden werden. Auch ohne Grass. Und das ist auch gut so.

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