Drogenhilfe: Die Ruhe nach dem Sturm

In der Wohngruppe des Suchthilfeprojekts Parceval verzichten straffällig gewordene Jugendliche freiwillig auf fast alles, was sie sonst lieben.

Mindestens ein Jahr dauert die Therapie. Wer durchhält, ist danach ein anderer Mensch. Bild: DPA

Als Erstes fällt die Ruhe auf. Aus den Fenstern von Haus Nr. 16 auf dem weitläufigen Gelände der Klinik Havelhöhe geht der Blick über die Havel in Richtung Großer Wannsee. Der Garten vor den Fenstern fällt sanft zum Wasser ab, Stühle stehen etwas unordentlich auf der Veranda, im Wintergarten wartet stumm ein schwarzes Klavier.

Im Haus setzt sich die entspannende Ruhe von draußen nahtlos fort. Hier wohnen neun Jugendliche im Alter von 13 bis 19 Jahren, die meisten teilen sich zu zweit eines der Schlafzimmer im oberen Stockwerk. Die Zimmer sind geräumig, hell und unerwartet aufgeräumt. Erst auf den zweiten Blick erschließt sich, woran es liegt, dass das ganze Haus das Gefühl von Entspannung und Ruhe vermittelt. Es liegt an dem, was nicht da ist. Hier gibt es keine Computer, keine Fernseher, keine CD-Player oder iPods, nicht mal Radiowecker. An den Wänden hängen Bilder in gedämpften Farben, grelle Poster von Popstars sucht man vergebens. Stattdessen gibt es eine regelmäßige gemeinsame Musikstunde und natürlich das Klavier im Wintergarten.

Es ist schwer, sich vorzustellen, was in den Jugendlichen vorgeht, wenn sie hier ankommen. Das Haus 16 am östlichen Havelufer beherbergt eine der Wohngruppen des Jugend- und Suchthilfeprojekts Parceval. Der Name spielt auf die Hauptfigur des mittelalterlichen Epos über den Königssohn Parzival an: Der wurde vom unwissend-hilflosen Rabauken zum ritterlichen und weisen Edelmann. Die von der Einrichtung gewählte Schreibweise gibt dem Namen noch eine andere Bedeutung: Auf Französisch bedeutet "par ce val" - "durch dieses Tal".

Denn wer hier ankommt, hat vieles hinter und noch so manches vor sich. Parceval nimmt Jugendliche auf, die draußen nicht mehr klarkamen - und mit denen draußen keiner mehr klargekommen ist. Sie sind auf Alkohol und/oder Drogen - meistens und -, sind von zu Hause abgehauen oder rausgeflogen, haben geprügelt, gedealt, geklaut - und das alles trotz ihres Alters bereits so heftig und lange, dass Richter oder Jugendämter in ambulanter Betreuung keine Lösung mehr sahen. Für manchen gilt: Wäre er nicht hier, wäre er im Knast.

Wie Josef. Er ist 17. Seit eineinhalb Jahren wohnt er bei Parceval. Josef, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, kommt aus Hellersdorf. Bevor er hierherkam, nahm er Kokain, Cannabis, Amphetamine und Alkohol und hatte sich vor allem mit Klauen und Sprayen eine dicke Akte bei der Staatsanwaltschaft erworben. Da er zu Hause zugedröhnt seine Mutter verprügelte, besorgte ihm das Jugendamt eine eigene Wohnung - damals war er 14. "Ab da gings richtig bergab", sagt Josef heute, "das war zu viel Freiheit."

Mit 16 drohte ihm der erste Gefängnisaufenthalt. Dass Josef damals in eine Therapieeinrichtung ging, war eigentlich ein Trick: So konnte er der Haftstrafe entgehen. Jetzt ist eine zweijährige Bewährungsstrafe gegen ihn ausgesetzt. Solange er in Therapie bleibt, ist Josef ein freier Mann. Verlässt er die Einrichtung, muss er in den Knast.

Gehen hätte Josef jederzeit können. Die Türen bei Parzival sind stets offen, der Bus hält vor dem Klinikgelände, die Stadt ist nah. Er ist aber geblieben. Auch wenn die Sache mit der Therapie anders lief, als er gedacht hatte. "Mal richtig abchillen" - irgendwie so was hatte Josef sich vorgestellt. Da lag er völlig falsch: Aufstehen um Viertel vor sechs, dann Frühsport, später lernen für die Schule und arbeiten für die Gemeinschaft, am Abend Gesprächsrunden. Und dazu diese Ruhe! Eine nicht ganz einfache Veränderung für Jugendliche mit Josefs Geschichte.

Gewalt ist tabu

"Manchmal sind wir hier schon extrem am Abspasten", sagt Josef. Neue bringen ihre Aggressionen von draußen in die Gruppe. Doch Gewalt ist tabu: Konflikte werden gleich gelöst oder in der abendlichen Gesprächsrunde besprochen. "Warst du heute unhöflich? Hast du andere abgewertet? Oder provoziert?" Solche Fragen stellen die Jugendlichen sich Abend für Abend. Mit Punkten bewerten sie sich selbst.

Mit den Betreuern werden Ziele vereinbart: Wer sie erreicht, wird belohnt. "Ich habe hier gelernt hinzunehmen", sagt Josef. Äußerlich trennt den muskulösen jungen Mann mit Basecap und Sportklamotten nichts von seinen Altersgenossen "draußen". Was ihn unterscheidet, ist die Gelassenheit, die er ausstrahlt und die bei einem 17-Jährigen überrascht.

Selbsterkenntnis, Innenschau, Impulskontrolle - das sind Begriffe, die Haci Bayram benutzt, wenn er erklärt, wie Parceval arbeitet. Ihre Selbstwahrnehmung sei eines der größten Probleme vieler Jugendlicher, sagt der therapeutischer Leiter der Einrichtung zum Beispiel: "Jede Korrektur wird als Kränkung empfunden." Draußen gäbe es dafür Schläge. Bei Parceval lernen sie, nicht gleich auszurasten, sondern respektvoll und höflich miteinander umzugehen. "Wir wollen den Jugendlichen andere Grundwerte vermitteln" - aus Haci Bayrams Mund klingt das so einleuchtend wie einfach.

Der 43-Jährige hat neben einem Sozialpädagogikstudium Ausbildungen in anthroposophischer Sozialtherapie und Heilpädagogik sowie in integrativer Sucht- und Gestaltpsychotherapie absolviert. Die Einrichtung Parceval hat er seit 1999 mit aufgebaut. Parceval arbeitet nach anthroposophischen Grundsätzen. Für Bayram heißt das vor allem, die Würde des Menschen zu achten: die Jugendlichen als gleichberechtigte Persönlichkeiten ernst zu nehmen und entwickeln zu lassen - und sie eben nicht zu brechen und zu erniedrigen, wie es das Konzept so genannter Bootcamps vorsieht.

"Alle Jugendlichen, die hier ankommen, sind in ihrem Vertrauen in Erwachsene sehr erschüttert", sagt Bayram. Es gehe deshalb zunächst darum, dieses Vertrauen wiederherzustellen. Bei Parceval funktioniert das zum Beispiel, indem für die BetreuerInnen und TherapeutInnen die gleichen Regeln gelten wie für die Jugendlichen: Jeder darf jeden kritisieren, jeder hält sich an die Umgangsformen. Gebrüllt wird nicht, und selbst die Regel, täglich höchstens acht Zigaretten zu rauchen, gilt für alle.

Der 18-jährige Auss hat sich das Rauchen bei Parceval gleich ganz abgewöhnt. Er ist stolz darauf, wie er seine alten Verhaltensweise hier verändert hat. Auss ist mit seiner Familie vor mehr als zwölf Jahren aus dem Irak nach Deutschland gekommen. Nach einer Fluchtodyssee gelangte die Familie über die Ukraine nach Hamburg. Dort erwartete sie - nichts. Auss Vater wurde alkohol- und spielsüchtig, Auss selbst hat neben Ausgrenzung und Ablehnung nicht viel von Deutschland kennengelernt. Sein Vorbild waren seine Brüder: Der jüngere sitzt im Gefängnis, der große ist "gerade draußen", sagt Auss. Er ist über ein Intensivtäterprogramm aus Hamburg zu Parceval gekommen.

Anders Eindruck schinden

Damals war er auf Marihuana, Koks und Alkohol. In seiner Akte stehen Gewalttaten, Raub und Einbrüche. Es sei ihm vor allem darum gegangen, dass die anderen Angst vor ihm haben, erzählt Auss. Heute erlebt er die anderen Umgangsformen bei Parceval als Freiheit: "Die Leute hier sehen mich so, wie ich wirklich bin."

20 bis 30 Prozent der Jugendlichen bei Parceval kommen aus Einwandererfamilien. Heute mehr als früher, sagt Haci Bayram, der selbst aus einer türkischen Einwandererfamilie stammt. Für ein Zeichen zunehmender Drogen- und Gewaltprobleme bei Migranten hält er die Zunahme aber nicht, eher für ein gutes Zeichen: Früher hätten Jugendämter Migranten eher selten in stationäre Einrichtungen vermittelt. Und auch vonseiten der Familien habe es oft Bedenken gegeben gegenüber Hilfsangeboten, die Jugendliche von der Familie trennen. "Es gibt bei vielen Migrantengruppen einen starken Familienbezug", so Bayram. Das Anliegen von Parceval, den Jugendlichen dabei zu helfen, auf eigenen Füßen zu stehen, sei deshalb für manche Familien schwer nachzuvollziehen: "Sie wollen lieber in der Familie helfen." Andererseits sei der familiäre Zusammenhalt eine gute Ressource für die therapeutische Arbeit: "Bei manchen deutschen Familien hat man das Gefühl, dass sie froh sind, ihr Kind endlich los zu sein."

Josef jedenfalls will nicht unbedingt zurück zu seiner Familie. Er will den Mittleren Schulabschluss machen und eine Ausbildung, "was Handwerkliches oder im sozialen Bereich". Auch Auss will eine Ausbildung machen: als Koch oder sonst wie in der Gastronomie. Er würde gerne zurück nach Hamburg zu seiner Mutter: "Die hat mir immer gesagt, dass ich Fehler mache."

80 Prozent der Jugendlichen, die bei Parceval anfangen, halten die Therapie durch. In der stationären Einrichtung bleiben sie mindestens ein Jahr. Die Betreuung geht danach ambulant weiter: Parceval hilft bei der Wohnungs- und Ausbildungsplatzsuche. "Wir arbeiten mit Partnern auf dem ersten Arbeitsmarkt", erzählt Bayram: soziale Einrichtungen, Biobauernhöfe, Kitas. In vom Arbeitsamt geförderte Ausbildungsmaßnahmen gebe man die Jugendlichen nicht gerne: "Da treffen sie wieder auf genau die Szene, die sie hinter sich gelassen haben."

Eine Erfolgsgarantie für lebenslange Nüchternheit könne Parceval aber keinem Jugendlichen geben, sagt Bayram: "Dafür haben sie zu viel Leben vor sich."

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