: „Dieser Dauerverdacht nervt“
Randalepotenzial sieht Haroun Sweis bei Berlins arabischer Jugend noch nicht – aber Solidarität mit Frankreichs Randalierern. Aggressionen speisen sich aus Perspektivlosigkeit, sagt der Sozialarbeiter
Interview Alke Wierth
taz: Sind die Unruhen in Frankreich ein Thema bei den arabischen Jugendlichen in Berlin?
Haroun Sweis: Auf jeden Fall. Sie sind sehr neugierig, was da los ist. Sie kannten die Lage in den französischen Vorstädten nicht. Jetzt bekommen sie das über das arabische und das deutsche Fernsehen mit.
Gucken sie mehr deutsches oder mehr arabisches Fernsehen?
Die Jugendlichen schauen eigentlich mehr deutsches Fernsehen. Aber die Informationen über Frankreich gucken sie sich gemeinsam mit den Eltern im arabischen Fernsehen an.
Wie wird da berichtet?
Ich finde, dass sehr gut berichtet wird. Nicht aufrührerisch, eher beruhigend. Es treten zum Beispiel muslimische Geistliche auf, die zu Ruhe und Gewaltverzicht aufrufen. Man versucht zu erklären, wie die Leute dort leben, es wird auch über die Arbeitslosigkeit und über Diskriminierung berichtet. Dass die Menschen dort Franzosen sind, auch die Sprache beherrschen, aber trotzdem keine Jobs bekommen.
Fühlen sich die Jugendlichen hier solidarisch?
Hier leben ja weniger Araber aus den nordafrikanischen Staaten, dafür mehr Palästinenser. Es gibt aber eine Solidarität, die unabhängig von der Herkunft ist. Man fühlt sich als Araber oder über die Religion verbunden. Aber auch als Ausländer, als Migrant fühlen sich die Araber hier solidarisch.
Sind sie denn hier stärker integriert?
Ich habe in den letzten Tagen oft mit den Jugendlichen darüber geredet, dass die Situation hier eine andere ist. Es gibt vielleicht Straßenzüge, in denen viele Araber wohnen, aber keine Trabantenstädte. Trotzdem sind viele in einer schwierigen Lebenssituation: Sie leben in Großfamilien in viel zu kleinen Wohnungen, es gibt wenig erfolgreiche Vorbilder für die arabischen Jugendlichen. Viele bleiben in der Community. Dazu kommt der miese Aufenthaltsstatus: Manche leben hier seit Jahren mit einer Duldung, die immer wieder nur für ein paar Monate verlängert wird. Da kann man nicht erwarten, dass sich jemand integriert.
Was für Zukunftspläne schmieden Jugendliche unter solchen Bedingungen?
Die meisten möchten hier bleiben. Aber es gibt das Problem mit dem Aufenthaltsstatus. Vielen fehlt die Möglichkeit, sich aus ihrer schlechten Lage zu befreien. Sie haben schlechte oder keine Schulabschlüsse, sehen keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Stattdessen sehen sie, welche Autos sich ein Drogenhändler leisten kann. Das auch mit ehrlicher Arbeit erreichen zu können, diese Chance sehen manche für sich nicht.
Kriminalität, aber auch Antisemitismus, Islamismus – das sind Themen, die im Zusammenhang mit hier lebenden Arabern immer wieder auftauchen. Wie wirkt das auf die Jungen?
Das nervt die Leute, und manche sagen genau deshalb provozierende Sachen. Die Medien reden mit ihnen, und dann kommt immer etwas Negatives dabei heraus. Sie sind Täter. Da wird viel verallgemeinert. Wer einmal in der Woche in die Moschee geht, ist noch kein Islamist, und wer fastet, der läuft deshalb nicht am nächsten Tag mit der Waffe durch die Stadt. Und Extremisten gibt es in anderen Religionen auch. Aber diese Vorurteile kriegen die Jugendlichen mit. Deshalb fühlen sie sich missverstanden, unter falschem Dauerverdacht.
Es gibt aber doch tatsächlich Gruppen, die ziemlich aggressiv auftreten?
Weil man das von ihnen erwartet! Das ist ihr schlechtes Image. Und wenn man ihnen so begegnet, wie manche hier das tun, dann kann man keinen Handkuss erwarten. Aber die meisten sind harmlos wie Schafe.
Was für ein Verhältnis haben arabische Jugendliche in Deutschland zum Staat?
Sie fühlen sich benachteiligt. Sie kriegen viel zu wenig Unterstützung, und ich meine nicht finanzielle, sondern Orientierungshilfen. Es reicht nicht, ihnen zu sagen: Geh zur Beratung, zum Arbeitsamt. Sie wissen vieles gar nicht. Es gibt Jugendliche, die nicht wissen, dass man Praktika machen kann. Oft rufen Leute in meiner Redaktion an und stellen Fragen, jetzt zum Beispiel über die Schulanmeldungen und Ähnliches. Die Älteren können oft kein Deutsch. Und unsere Radiosendung ist bundesweit die einzige, die auf Arabisch über Deutschland berichtet. Wir versuchen immer, solche Themen anzusprechen. Sonst kriegen viele solche Informationen einfach nicht mit.
Da fehlen also noch die Kontakte zu Deutschen, auch zu deutschen Institutionen?
Ja, man weiß kaum etwas übereinander. Es gibt keinen beständigen Austausch mit Lehrern, Eltern, Sozialarbeitern zum Beispiel. Bei aktuellen Anlässen wie jetzt werden Gespräche gesucht, aber dann erlahmt das wieder. Das ist seit Jahren so. Die arabische Community hier ist auch noch nicht so entwickelt wie die türkische, das hat mit der Migrationsgeschichte zu tun. Die Türken hatten als Arbeitsmigranten von Anfang an mehr Kontakt zu den Deutschen. Die Araber hier haben eine andere Geschichte. Es gibt vier Hauptgruppen: die Intellektuellen, die hier studieren und dann bleiben. Es gibt die Flüchtlinge und Asylbewerber. Es gibt einige wenige Arbeitsmigranten aus Algerien oder Marokko. Und dann ist da noch die Gruppe der Botschaftsangehörigen, die in Berlin durch den Zuzug der Botschaften gewachsen ist. Früher haben diese Gruppen untereinander kaum Kontakt gehabt, jetzt kommen sie langsam zusammen. Auch die arabischen Vereine werden aktiver. Sie wachsen gerade in diese Rolle der Ansprechpartner hinein. Aber sie haben noch nicht laufen gelernt. Sie krabbeln noch.
Beginnt damit nun auch ein Dialog?
Ja, es beginnt etwas. Das sind teilweise Einzelinitiativen, die mehr Unterstützung und Bündelung bräuchten. Und im kulturellen Bereich müsste viel mehr gemacht werden. Aber beispielsweise in Neukölln führt jetzt das Quartiersmanagement Gespräche mit den arabischen und türkischen Ladeninhabern, damit sie Praktikumsplätze anbieten. Dort leben ja besonders viele arabische Familien. Aber es gibt auch in der Neuköllner Bezirksverwaltung noch Leute, die aufspringen und wegrennen, wenn sie nur das Wort Araber hören.
Zum Schluss die aktuelle Gretchenfrage: Gibt es ein Randalepotenzial unter den arabischen Jugendlichen hier?
Jetzt noch nicht. Aber man muss die Situation auffangen, bevor es zu spät ist. Die Generation, die jetzt heranwächst, kann nicht in dieser Hoffnungslosigkeit bleiben. Da muss man Lösungen finden. Und es sollte nicht immer erst diskutiert werden, wenn mal wieder was passiert ist.
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