Meinungsforscher zur Wahl in Russland: "Rituelle Bezeugung von Solidarität"

Der Sieger steht ohnehin schon fest: Bei der Wahl am Sonntag in Russland geht es eigentlich nur noch ums Prozente-Heischen, sagt Led Gudkow.

Guter Cop, böser Cop auf Russisch. Bild: dpa

taz: Herr Gudkow, gibt es bei der Präsidentenwahl in Russland am Sonntag noch ein Detail von Bedeutung, wenn der Sieg von Medwedjew schon feststeht?

Lew Gudkow: Die einzig spannende Frage ist, wie hoch der Sieg des Kremlkandidaten ausfallen wird. Es sähe seltsam aus, wenn Medwedjew besser als sein Ziehvater Putin abschneidet. Meine Prognose: Die Beteiligung liegt mit 72 Prozent etwas niedriger.

In Russland herrscht beängstigende Einmütigkeit. Warum?

Die meisten Russen verbinden mit dieser Wahl keine Hoffnung auf Veränderung oder Verbesserung, sie haben nur Angst vor einer Krise. Daher nehmen sie Manipulationen und Mauscheleien auch so gelassen hin. Am liebsten hätten sie, dass Putin im Amt geblieben wäre.

Was halten Sie von seinem Nachfolger, Medwedjew?

Von ihm wird nichts anderes erwartet, als dass er dessen Kurs fortsetzt. Aber er macht einen intelligenten Eindruck, ist erfahren und strahlt Energie aus. Und er kommt bei Frauen gut an: Sie stellen 59 Prozent seiner Wähler.

Warum gibt es in Russland so wenig Widerspruch?

Die gut verdienende, organisierte und informierte Oberschicht hält zu Putin, obwohl sie mit den autoritären Tendenzen, der verschärften Wirtschaftskontrolle und der Medienzensur nicht einverstanden ist. Aber der Konformismus überwiegt. Zwei Drittel der Bevölkerung dagegen leben auf dem Land und in der chronisch depressiven Provinz. Dort gibt es keine Aussichten auf Besserung, die Wähler richten alle Hoffnungen an die Zentralmacht. Je schlechter die soziale Lage, desto größer sind die Erwartungen an den Kreml. Das Paradox ist: Die soziale Unzufriedenheit konserviert das autoritäre Modell.

Wenn die Wahlen eine Farce sind: Warum verzichtet man nicht gleich darauf?

Wählen hat in Russland eine andere Funktion als im Westen. Der Sinn besteht nicht im politischen Wettbewerb. Sondern in der Akklamation jener Gruppe, die sich gerade an der Macht befindet. Kurz: Es ist eine rituelle Bezeugung von Solidarität. Im totalitären sowjetischen System versuchte der langsam vor sich hin faulende Staat, die Bevölkerung mit Versprechungen zu mobilisieren. Heute wird der Mensch demoralisiert, geschwächt, seine Aufmerksamkeit auf Nebensächliches gelenkt. Statt mit Visionen zu ködern, werden auf breiter Front Sündenböcke für Fehler ausgemacht: die Opposition, der Westen, die Tschetschenen.

Warum verfängt diese Negativpropaganda?

Der Gesellschaft wird eingeimpft, weder Moral noch Ideale würden zählen, nur Interessen. Das ist eine Reaktion auf die Enttäuschungen der Vergangenheit, den Untergang der sowjetischen Utopie und das Scheitern demokratischer Reformen in den Neunzigerjahren. Aus dem Gefühl, betrogen worden zu sein, hat sich ein kollektiver Zynismus entwickelt, der vor nichts mehr haltmacht. Das erklärt Putins unglaubliche Popularität und warum er als guter Zar idealisiert wird. Er ist die einzige Ausnahme in einem Umfeld der Niedertracht.

Der Präsident, der über allem steht. Überträgt sich dieses Image auf Medwedjew?

Ich denke schon. Medwedjew arbeitet daran: Er imitiert Putin in Wort, Gestik und Intonation, als wäre er nach dessen Ideal geklont. Momentan teilen sie sich die Rollen: Putin spielt den bad cop, Medwedjew gibt den guten.

Staat und Gesellschaft driften in Russland auseinander. Dennoch schwappt eine Welle des Patriotismus über Russland. Warum?

Dieses Bekenntnis ist rein deklarativ. Niemand ist deswegen bereit, dem Staat auch zu dienen. Dem Sowjetmenschen erlaubte diese Doppelmoral, sich anzupassen und zu überleben. Mit dieser Haltung geht er nun auch zur Wahl. Die Gesellschaft antwortet mit rituellem Gehorsam, weil es immer so war.

Kann man auf die Jugend als stille Reserve hoffen?

Die russische Jugend ist apolitisch und auch nicht bereit, sich gesellschaftlich zu engagieren. Ökonomisch geht es ihr relativ gut. Sie hält das für selbstverständlich, möchte sich amüsieren, aber keine Gegenleistung bringen. Die jungen Leute gehören zu den überzeugtesten Anhängern Putins. Wenn sie wählen, dann geben sie konservativen oder antidemokratischen Kräften ihre Stimme.

Beunruhigt es die Bürger nicht, dass der Geheimdienst unter Putin in alle wichtigen Positionen hineinsickert?

Der Mehrheit ist das gleichgültig. Diese Gesellschaft hat kein historisches Gewissen, deshalb fürchtet sie sich nicht vor neuen Repressionen. In der älteren und mittleren Generation melden sich aber sowjetische Reflexe zurück: Sie ist vorsichtiger geworden.

Vorauseilender Gehorsam?

Die Dressur war nachhaltig, die Erfahrungen sind gespeichert. Unser Geheimdienst ist eine seltsame Mischung aus politischer Polizei à la Gestapo und Interessenvertretern des industriellen Finanzkapitals. Noch herrscht kein Massenterror, aber die Anzeichen eines repressiven Systems sind da. Eine winzige Hoffnung auf Veränderung besteht, sobald sich die korporativen Strukturen die Beute teilen müssen. Dann treten widersprüchliche Interessen zutage, die Raum für Neues öffnen könnten. Diese Chance ist aber nicht sehr groß.

Im Unterschied zur westlichen Elite ist die russische auffällig homogen. Warum?

Die Auswahl unserer Elite erfolgt nach dem Prinzip, ob jemand aus Sicht des Vorgesetzten seinen Status verdient hat. Funktion, Effektivität, Produktivität, schöpferische Eigenschaften spielen dabei keine Rolle. Entscheidend ist absolute Loyalität - und ein Minimum an Kompetenz. Daher hat diese Elite auch keine Vorbildfunktion.

Das klingt so, als hätte sich der Untertanengeist seit dem Zusammenbruch der UdSSR kaum verändert?

Der sowjetische Typ ist erstaunlich resistent: Er hat gelernt, mit der Obrigkeit zu leben. Mal betrügt er sie, mal baut er auf ihre Hilfe; über Alternativen denkt er nicht nach. Dieser Mehrheitstyp ist ein auf Anpassung geeichter Zyniker, der sich allen Realitäten unterwirft und dies für die Norm hält. Zu Solidarität und öffentlicher Aktivität ist er nicht fähig, und er kann auch seine eigenen Interessen nicht verteidigen. Dieser Mensch ist mit sich und seinen Problemen meist allein. Das fördert Korruption, schraubt Ansprüche herunter und blockiert die Vision einer anderen Zukunft. Der Horizont der meisten Russen reicht nicht über den nächsten Tag hinaus. Vor allem eine Sorge quält sie: dass der bescheidene Besitz wieder verloren gehen könnte.

Wie soll der Westen auf die Wahl in Russland reagieren?

Wir wollen keine Einmischung. Es wäre aber wünschenswert, wenn Politik und Öffentlichkeit klar Stellung bezögen. Bislang dominiert im Westen ein pragmatischer Zynismus: Russland habe eben keine demokratischen Traditionen, heißt es dann. Doch sobald ich in Deutschland frage, wo das Land ohne die politische und demokratische Hilfe der USA nach dem Krieg heute stünde, herrscht betretenes Schweigen. Klar, es geht um Öl und Gas. Ich bezweifle jedoch, dass man deswegen auf moralische Eindeutigkeit verzichten muss.

INTERVIEW: KLAUS-HELGE DONATH

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