Streikwege: Mit der S 1 bis in die City

Von Lichterfelde West nach Kreuzberg.

Dass in den südwestlichen Bezirken Berlins der unselige Trend zum Zweit- oder gar Drittwagen längst Wirklichkeit ist, sieht man auch während dieser Streiktage. Ich sitze um 9 Uhr in der S-Bahn-Linie S 1 von Wannsee über Schöneberg bis hinauf nach Fronau und frage mich, ob die Menschen von hier unten bereits alle bei der Arbeit sind oder womöglich nicht arbeiten - so leer ist der rotgelbe Waggon. Nur ein gutes Dutzend Fahrgäste hockt auf den blaugrauen Sitzen. Zu wenig, um Geld zu machen, befindet auch der Straßenmusikant und packt nach der Abfahrt in Wannsee seine Querflöte erst einmal wieder weg.

Dass von den Auswirkungen des Streiks - Umsteiger et cetera - hier so gar nichts zu sehen ist, verwundert mich aber doch. Da fällt mir ein, dass in den so genannten besseren Bezirken das Bewusstsein über den öffentlichen Nahverkehr etwas unterirdisch gelagert ist und deshalb wichtige Informationen fehlen. Die S-Bahn ist auch BVG, denkt man in Wannsee vielleicht. Und der Laden streikt ja. Darum die Fast-Leerfahrt.

Wie recht ich habe, ist spätestens am S-Bahnhof Nikolassee zu begutachten. Auf der Avus in Richtung Berlin staut sich der Verkehr. Bump-to-bump, wie der Engländer sagt, also Stoßstange an Stoßstange, geht es mit dem Wagen nach Berlin. Und in jedem sitzt nur einer drin. Wannsee fährt alle Zweitwagen spazieren!

Die Mitarbeiter der S-Bahn kriegen die südlichen Informationsdefizite ebenfalls zu spüren. Am Bahnhof Lichterfelde West frage ich die Dame in schicker blauer Uniform im Schalterhäuschen: "Möchten Sie nicht auch streiken und lieber daheim bleiben?" "Nö", sagt sie, "daheim bleiben wäre nüscht für mich. Aber es nervt schon, was die Leute hier alles von mir wissen wollen." - "Was wollen die denn alles wissen?", frage ich weiter. "Na etwa, wie lang die S-Bahn heut noch fährt oder so. Und wie man mit dem Notverkehr nach Hönow über Kaulsdorf kommt. Hönow weeß ick doch gar nicht. Det is doch BVG."

Ab Rathaus Steglitz wird es in der S 1 voller. Nicht unbedingt mehr Fahrgäste als sonst steigen zu. Aber die Wagen sind überproportional mit Fahrrädern beladen, mit denen die Radler dann die Reststrecke - die sie sonst mit Bussen oder U-Bahnen zurücklegen - bewältigen. Ich habe mein Fahrrad daheim gelassen, weil es mir wegen des Wintereinbruchs zu kalt ist und ich mich auch weigere, einen Fahrrad-Fahrschein zu kaufen. Jetzt bereue ich, dass ich ohne Rad unterwegs bin. Nicht nur, weil ich später ein gutes Stück zu Fuß gehen muss. Angesichts der Radlerstärke glaube ich auch, dass kein Kontrolleur eine Chance hätte.

Was in der S 1 nervt, ist die Ansage auf Englisch in Schöneberg: "Passengers travelling to Südkreuz, please change here for the Circle-Line." Dabei werden "Südkreuz" und "Circle-Line" so hausfrauig-tuntig betont, als wäre Berlin eine Karikatur von London.

Ab hier bis zur Friedrichstraße ist die S 1 Streikersatzbahn. Zehn knappe Minuten Fahrt sitze ich eingeklemmt zwischen dreckigen Rädern und Kinderwagen, MP3-Player-Menschen und solchen ohne. Draußen kreuzt die Bahn Sachsendamm und Yorckstraße und lässt alle Drittwagenbesitzer locker stehen. Die Fahrt erinnert ein wenig an 1989, als die Mauer fiel und die Ossis den Westen stürmten. Die S-Bahn war voll und die Gesichter fragend.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.