: Entlang dem Stacheldraht
Erinnerung im Angesicht der Lager: Romuald Karmakars „Land der Vernichtung“ (So. 21.15 Uhr, 3sat)
Die Stimme zählt jeden Schritt, verhaspelt sich, überlegt kurz und zählt weiter, während der Film Holzpfähle und Stacheldraht zeigt, dahinter gelb verdorrte Herbstwiesen. Bei 1.087 Schritten ist Schluss, dann hat der Regisseur Romuald Karmakar in einer einzigen, 15 Minuten langen Kamerawanderung eine Längsseite des Zaunes geschafft, der das Konzentrationslager Majdanek heute noch umgibt.
Seit der Befreiung 1944 ist das KZ eine Gedenkstätte. Es gibt Führungen zu den Krematorien und Gaskammern, es gibt ein Mausoleum, in dem sich ein Berg aus der Asche von zigtausend ermordeten Juden auftürmt. Und es gibt unzählige Dokumentationen über solche Orte des Schreckens, um ein Vergessen unmöglich zu machen.
Der 1965 geborene Karmakar verfolgt mit „Land der Vernichtung“ jedoch eine andere Strategie. Er will keinen Beitrag zur Gedenkpolitik leisten, will nicht ein weiteres Mal belegen, dass sich der Holocaust in keinem Bild darstellen lässt und doch unentwegt Bilder produziert. Statt dessen sucht Karmakar danach, wie sich die Erinnerung im Angesicht der Lager anfühlt, für Zeitzeugen, Überlebende, für Nachgeborene und letztlich auch den Filmemacher selbst.
Dabei war „Land der Vernichtung“ ursprünglich die Vorrecherche zu einem Spielfilmprojekt – ein „Making-before-Film“, wie Karmakar es nennt. 2003 hat er über 15 Stunden Material in Südpolen gedreht, auf der Suche nach den Einsatz- und Stationierungsorten des Hamburger Polizeibataillons 101, das 1942/43 im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ an Deportationen und Judenerschießungen beteiligt war. Auf einem alten Schwarz-weiß-Foto sieht man die Polizisten vor einem Schulgebäude, in dem sie untergebracht waren; und hinter der Schule stehen wenige Einstellungen später noch immer die Fußballtore auf dem Sportplatz, der schon da war, als dort die Juden aus der Ortschaft zusammengetrieben wurden.
Diese genau montierten Übergänge sind eine wesentliche Stärke des Films. Sukzessive und ohne jeden Kommentar des Regisseurs muss man immer wieder realen Raum und erinnerte Zeit zusammendenken. Bei einer Autofahrt läuft ein Wunschkonzert aus den frühen Vierzigerjahren auf der Tonspur, erst nach ein paar Minuten sieht man rechts die Bahnschienen, die zum Lager führen.
Die Verständigung mit den dörflichen Bewohnern klappt kaum, immer wieder ringen alle Beteiligten nach Worten, um zu erklären, wann und an welchen Stellen die Massenerschießungen stattgefunden haben. Wo die Gruben waren, sind Bäume gewachsen. Überall in der Umgebung von Majdanek, Sobibor, Treblinka oder Belzec stehen solche kleinen Waldstücke der Erinnerung. HARALD FRICKE