Kolumne Gerüchte: Ein Hammer für das Mandelhirn

Welche Angst ist eigentlich natürlich? Und gibt es ein Gegenmittel? Die Frage stellt sich jedes Mal am Abreisetag.

Als ich an jenem Vormittag bei strahlend blauem Himmel das Taxi rief, fiel mir der britische Naturschriftsteller Richard Mabey ein. Er schildert in seinem autobiografischen Werk "Nature Cure" eine interessante Theorie der Depression. Könnte es sein, dass die Seele nur deshalb erstarrt, weil sie sich wehren will gegen eine Umwelt, in der sie nicht heimisch werden kann? Das fragt Mabey, selbst Spezialist für Vögel und Blumen.

Hätte Mabey Recht, dann wären die sich ausbreitenden Psychomacken eine Zivilisationskrankheit wie Rückenschmerzen. Weil unsere sitzende Lebensweise unserem Körper nicht entspricht, streikt unser Muskel- und Gelenkapparat. Weil unsere hypertechnisierte Umwelt unsere alten Gefühlsmuster grob missachtet, wehrt sich das Hirn. Psychomacken als eine Art evolutionsbiologischer Protest - das hat was, denke ich, als ich das wichtigste Werkzeug für die Reise in meinen Rucksack stecke.

Wie immer, wenn ich weggehe, kommt mir die Sache mit der Natur und den Hirnfunktionen in den Sinn. Nicht nur wegen meiner Bekannten Bine. Sie fuhr lange Zeit im ICE nur mit einem kleinen Hammer im Gepäck. "Wie käme ich sonst raus, angenommen, der Zug steckt irgendwo fest?", hatte mir Bine erklärt. Den Notausstiegen an den Türen des ICE traute sie nicht.

Doch mein Bekannter Gerhard arbeitet bei der Deutschen Bahn und erklärte mir, dass inzwischen alle ICEs nachgerüstet sind. In jedem Waggon gibt es inzwischen die Fenster mit dem roten Punkt, wo man die Scheibe mit dem Hammer einschlagen kann, der daneben hängt. Bine sucht sich nun immer einen Fensterplatz unter dem roten Punkt. "Du glaubst gar nicht, wie mich das beruhigt", sagte sie mir. Ihr Hammer bleibt zu Hause.

Ich bin eingestiegen ins Taxi und gebe mein Ziel an. "Ein Supertag zum Verreisen, na, da kann der Urlaub ja nur schön werden", meint der Fahrer. Er ist zum Plaudern aufgelegt. Ich sage nichts. Uns trennen Welten.

Uralte Teile unseres Hirns sind beteiligt, so schreibt der Neurologe Borwin Bandelow, wenn Menschen Ängste haben, die im heutigen Alltag gewisse Probleme bereiten. Zum Beispiel die Angst vor geschlossenen Räumen, deren Türen man nicht selbst von innen öffnen kann. Ein alter Überlebensmechanismus. Früher, als wir noch als Urmenschen brüllend umherliefen, war es wirklich gefährlich, in Löcher zu fallen oder uns in Höhlen zu verirren, wo wir nicht mehr alleine herauskamen. Warum soll es daher unnatürlich sein, sich unwohl zu fühlen, wenn man in einem geschlossenen Metallkasten mit vielen fremden Menschen hoch- oder runterfährt? Mein Bekannter K. fährt möglichst nie Lift.

Dem Taxifahrer habe ich Trinkgeld gegeben und bin ausgestiegen. Ich hätte ruhig netter sein können zu ihm. Vielleicht ist er ja der letzte Mensch, der ein paar persönliche Worte an mich richtete. Inzwischen weiß man eine ganze Menge über Techniken, mit Stress umzugehen. Zum Beispiel das Gebet oder die Meditation - das sind echte Ablenkungsmanöver. Ähnliches wird heute in Anti-Panik-Trainings gelehrt, hat mir K. erzählt. Rückwärts zählen ab 300 in Siebener-Schritten zum Beispiel, also 300, 293, 286, 278, äh 279, da muss man schon ein bisschen rechnen und schwups, schon ist das angstgeschwächte Hirn sicher im Hier und Jetzt gelandet. Meine Freundin Theresa hat als Kind nicht gebetet oder gezählt, aber dafür immer ihren Regenschirm mitgenommen. "Ich stellte mir vor, dass ich an dem Schirm zu Boden segeln könnte, falls wir abstürzen", erzählte sie mir.

Da bin ich rationaler. Eine Stunde ist vergangen. Ich sitze jetzt auf Platz 27 D. Und zücke mein wichtigstes Werkzeug zur Reise, das Buch "Warum sie oben bleiben", von Flugzeugingenieur Jürgen Heermann geschrieben. Eigentlich kenne ich den Text schon. Das Düsentriebwerk wird gleich für Schub und Luftstrom sorgen. Über dem gebogenen Flügel strömt die Luft dann schneller nach hinten, so entsteht Unterdruck und der saugt die Tragflächen nach oben. Ist ein Naturgesetz. Und ich werde wieder versuchen, das meinem Mandelkern im Hirn zu erklären.

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