Kolumne: HELMUT HÖGE über die Chiffre 68

"Was gibt es in der Geschichte, was nicht Ruf nach oder Angst vor der Revolution wäre?" (Michel Foucault).

"Was gibt es in der Geschichte, was nicht Ruf nach oder Angst vor der Revolution wäre?" (Michel Foucault)

1968 gingen nicht nur weltweit die Studenten und Arbeiter revolutionär gestimmt auf die Straße, sondern in gewisser Weise auch die Unternehmer, die - vom Geist der Unruhe erfasst - meinten, sich jetzt auch was Neues einfallen lassen zu müssen.

Der Bally-Konzern stellte 1968 einige Künstler ein, die sich neue Flipper-Automaten einfallen lassen sollten. Der letzte wurde 1991 in der Neuköllner Bally-Niederlassung entlassen, er eröffnete dann den Techno- und Ecstasy-Club "Bunker".

IBM heuerte 1968 eine Gruppe von LSD-Freaks an und stellte ihnen einen Computer hin, mit dem sie experimentieren sollten. Als die Gründer des Londoner Arts Lab, Jim Haynes und Jack Moore, aus England ausgewiesen wurden, bekam Letzterer in Amsterdam von Sony ein Video-Labor eingerichtet - ebenfalls zum Experimentieren.

In Edgar Reitz Monumentalfilm "Heimat" handeln die 11. und 12. Folge des zweiten Teils von 1968: Hier ist es eine Münchner Werbefilmfirma, die den Hauptdarstellern, einer Studentenclique, ein elektronisches Ton- und Filmstudio einrichtet - zum Rumspielen.

In seinem Buch "Das Geschäftsjahr 1968" hat Bernd Cailloux die Entwicklung des Strobo-Lights und seines daraus entstandenen erfolgreichen Firmenkollektivs beschrieben. Ähnlich entwickelte der Weddinger Erfinder Dieter Binninger 1968 verschiedene Video-Anwendungen - zusammen mit einigen Genossen vom Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen, unter anderem mit dem "Heiligen Steve".

Im selben Jahr zog Andy Warhols New Yorker "Factory" um - in ein neues Gebäude. Dort wurde dann nur noch "ernsthaft" und "drogenfrei" gearbeitet - zu "nüchtern" für die Feministin Valerie Solanas, die im Sommer 1968 mehrmals auf Warhol schoss. In Berkeley bahnte sich 1968 der Umbruch in der Biologie an - mit der "zellulären Revolution" der dort lehrenden Lynn Margulis.

Aber auch mit Humberto Maturana, der 1968 von Heinz von Foerster an die University of Illinois eingeladen wurde, wo er sein Konzept der "Autopoiesis" entwickelte. In San Francisco arbeitete derweil der Biologe Stuart Kauffman an einem Computerprogramm - zur Simulation evolutionärer Selbstorganisation.

In Paris las Louis Althusser "Das Kapital" neu - und eliminierte darin den "Humanismus", er sowie viele seiner Schüler wurden später alle irre.

Im französischen Fernsehen diskutierten 1968 Foucault, Lévy-Strauss, Monod und Jacob über die Analogie von Sprache und genetischem Code. Ebenfalls über den Ursprung der Sprache und die Revolutionierung der Wissenschaften diskutierten 1968 unter anderem Waddington, Hayek, Bertalanffy und Jean Piaget unter der Regie von Arthur Koestler in Alpach: "Das neue Menschenbild".

Auf der jugoslawischen Insel Korcula erlebte die philosophische "Praxis"-Gruppe ihren internationalen Durchbruch - alle möglichen revolutionären Denker tauchten ab 68 dort auf: unter anderem Marcuse, Fromm, Habermas und Bloch. Neben der "Arbeiterselbstverwaltung" stritten sie 1968 dort über "Marx und die Revolution".

Der FU-Religionswissenschaftler Klaus Heinrich hörte dagegen 1968 erst mal auf zu streitschriften. Er hatte bereits 1964 alles über "68" in seiner Habil "Über die Schwierigkeit, nein zu sagen" gesagt. Hinzu kamen dann nur noch die Erfahrungen der "Kommune 1" und "2".

In einem Interview mit dem Leiter der Berliner Treuhand-Regionalniederlassung, Hans-Christoph Wolf, einem ehemaligen Siemens-Manager, kam dieser ebenfalls auf jenes Jahr zu sprechen: "Ich gehöre zu dieser Generation, die hier 1968 an der FU gewesen ist. 1972 gab es einen Unternehmerbrief in Berlin, in dem stand: Stellt die Demonstranten ein oder wie immer man sie genannt hat, also die 68er. Dann werdet ihr feststellen: Nach wenigen Monaten ist deren Engagement für euch nützlich. Das war ungefähr der Inhalt. Und das stimmt auch. Diese Querdenker, also diese halbe Mischung aus Querulant und Exzentriker, die sind unendlich wertvoll. Sie sind unbequem, klar. Sie stehen nicht unten, wenn der Chef kommt, und halten ihm die Tür auf, weil sie das gar nicht interessiert. Aber wenn man solche Leute in eine Organisation einbauen kann, dann sind solche Organisationen erfolgreich. Glücklicherweise gab es in der Industrie keinen Radikalenerlass, auch wenn einige Betriebe sich so verhalten haben. Die Kraft liegt nicht in der Konformität." Das sagte der Manager 1993. Nun sind wir jedoch vollends in restaurative Zeiten reingerutscht - und es gilt das Gegenteil: Arschkriecherei und Existenzangst. Bloß, dass dabei in Kunst und Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, in Partnerschaften und Projekten - nur Neobanalitäten bei rauskommen.

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geb. 1947, arbeitet für die taz seit 1980, Regionalrecherchen, ostdeutsche Wirtschaft, seit 1988 kulturkritischer Kolumnist auf den Berliner Lokalseiten, ab 2002 Naturkritik.

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