Debatte Russland: Die Sphinx blickt nach Westen

Am Mittwoch tritt Dmitri Medwedjew sein Amt als Präsident Russlands an. Der Westen sollte dies als eine Chance begreifen und auf eine strategische Partnerschaft hinarbeiten.

Es ist noch gar nicht so lange her, da wären viele im Westen in tiefste Ungläubigkeit verfallen, hätte der Kreml einen Präsidenten wie Dmitri Medwedjew präsentiert: Jung, sympathisch, mit liberalem Anstrich und ein Hardrock-Fan obendrein. Auf dem ersten Blick verkörpert er wie keiner seiner Vorgänger in der russischen Geschichte jene Werte, die der Westen stets von Russland eingefordert hat. Und die Reaktion? Argwohn, Misstrauen, Pessimismus.

Klar, auch in Russland hält sich die Euphorie in Grenzen. Dort kursieren schon die ersten Witze. Einer geht so: Kurz vor Medwedjews Antrittsrede stürzt ein Mitarbeiter auf die Bühne, um Fäden am Jackett des Präsidenten zu entfernen. "Lass das", unterbricht daraufhin lautstark Putin. "An den Fäden ziehe nur ich." Medwedjew als eine Marionette Putins: das ist der vorherrschende Eindruck, weswegen die Befürchtung nahe liegt, dass der smarte Newcomer auch den gleichen Geist wie sein Ziehvater atmen müsse. Und bis zum Beweis des Gegenteils steht zu vermuten, dass sich unter einem putinschen Klon in Russland nichts ändern wird.

Ein Grund zur Freude ist das nicht: Putin hinterlässt schließlich eine Gesellschaft, die nur formal einer Demokratie ähnelt. Eine Opposition existiert bestenfalls auf dem Papier, die Korruption treibt prachtvolle Blüten, Militär und Geheimdienste bestimmen in beängstigendem Ausmaß die Politik. Doch das Russland von heute ist nicht das Ergebnis eines von oben orchestrierten Putsches, der Putin und nun Medwedjew an die Macht gespült hätte. Beide können auf enormen Rückhalt in der Bevölkerung bauen, und das mit Grund. Denn Gewinner der Reformpolitik Putins finden sich schon längst nicht mehr nur in den Reihen von Oligarchen und in der Oberschicht. Zum ersten Mal in der Geschichte Russlands kommt bei immerhin einem Drittel der Bevölkerung die aus Öl- und Gasexport erzielte Dividende an. Russlands Wirtschaftspolitik ist die liberalste, die es dort je gab, Schattenwirtschaft und Inflation sind rückläufig. Wohl auch deshalb wird die autoritäre Politik des Kreml mitsamt der gelenkten Präsidentschaftswahl von einer großen Mehrheit der Bürger klaglos hingenommen - auch, weil sie Ordnung für ein höheres Prinzip als politische Freiheit hält.

Was im Westen befremden mag, geht in Russland auf eine kollektive Erfahrung zurück. Denn anders, als im Ausland vielfach wahrgenommen, stand Russland beim Abtritt von Präsident Jelzin mitnichten vor der Wahl zwischen Demokratie oder Autokratie, sondern zwischen Zerfall oder der Wiederherstellung staatlicher Ordnung. Die Zeit der Perestroika, vom Westen so hoch geschätzt, haben viele Russen eher als Periode der Anarchie, des drohenden Staatszerfalls und der ungebremsten Bereicherung der Oligarchen in Erinnerung. Die wenigsten trauern dieser Zeit nach.

Seit Putin dem Land wieder Stabilität und gar ein Gefühl von Größe zurückgegeben hat, sucht der Westen nach dem richtigen Verhältnis zu seinem östlichen Nachbarn. Soll er Russland nach eigenen Maßstäben beurteilen? Gar auf eine Kopie seines Systems hinwirken? Oder doch den gegenwärtigen russischen Weg akzeptieren? Als Erstes sollte gelten: keine Belehrungen. Davon hat Russland in der Ära Boris Jelzins mehr als genug bekommen, nicht alle zu seinem Nutzen. Zweitens: Russlands innere Demokratiedefizite, wenngleich unübersehbar, sind zunächst einmal Russlands Probleme. Wer hier etwas zum Besseren bewirken will, sollte Medwedjew mit seinen Versprechungen auf mehr Zivilgesellschaft und Rechtsstaatlichkeit beim Wort nehmen, statt den Eindruck von Einmischung zu erwecken.

Drittens sollte der Westen aufhören, Russland zu behandeln, als ob ein Rückfall in sowjetische Zeiten zu befürchten sei. Denn weder droht aus Moskau ein gewaltsamer Ideologie-Export noch irgendein neoimperiales Experiment. Moskau hat genug damit zu tun, den Status quo zu erhalten. Viertens: Russland selbst will mehr als nur Rohstofflieferant sein. Seine Eliten haben erkannt, dass dem Land ohne Modernisierung der Gesellschaft das Absinken in die Bedeutungslosigkeit droht und dass diese Modernisierung ohne den Westen nicht zu schaffen ist. Hier lässt sich anknüpfen: Mit Wandel durch Annäherung statt Vorbedingungen und Stigmatisierung.

Der Westen hat durchaus eine Menge Einfluss. Wenn es richtig ist, dass Russland dem Westen misstraut, dann liegt im Umkehrschluss im Aufbau von Vertrauen der Schlüssel für einen Dialog. Dazu gehört es, zunächst einmal anzuerkennen, dass russische Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen durchaus auch dann legitim sein können, wenn sie westlichen Vorstellungen zuwider laufen. Das gilt für den Fall des Raketenschilds in Osteuropa, der von den USA gewollt wird, des KSE-Vertrags, der Ostausdehnung der Nato bis zum Kaukasus oder beim Kampf um Energieressourcen. Gegensätzliche Interessen sind im Umgang der Staaten miteinander normal und nicht per se schlecht.

Eine Grenze sollte nur in jenen Fälle erreicht sein, in denen Russland gegen Völkerrecht und Menschenrechte verstößt. Dass Russland separatistische Tendenzen in Tschetschenien als Angriff auf seine staatliche Integrität betrachtet, sollte niemanden verwundern. Militärische Übergriffe auf Zivilisten müssen dennoch klar verurteilt werden. Für das Gefühl einer islamistischer Bedrohung im Kaukasus sollte Verständnis aufgebracht, an der Verfolgung und Unterdrückung muslimischer Minderheiten trotzdem scharfe Kritik geübt werden. Die Besonderheit der russischen Machtausprägung in einer Vertikalen, nicht wie im Westen in einer Horizontalen, muss man akzeptieren. Nicht hinzunehmen sind die Unterdrückung der Opposition, die Knebelung der Presse und die Verfolgung oder gar Liquidierung missliebiger Journalisten.

Moskaus neue Stärke sollte der Westen jedoch nicht als Gefahr für die internationale Ordnung an die Wand malen, sondern als potenzielle Voraussetzung für eine Partnerschaft betrachten. Russland handelt längst nicht mehr ideologisch, sondern pragmatisch und damit berechenbar. Für die Sicherheit des Westens stellt das eine weitaus geringere Bedrohung dar als jene Periode der Schwäche, die es überwunden hat. Wenn es richtig ist, dass die internationale Ordnung in Zukunft nicht mehr in erster Linie durch die Dominanz der USA, sondern durch eine Balance of Powers geprägt sein wird, dann macht es aus europäischer Sicht durchaus Sinn, neben der Fixierung auf Washington auch andere strategische Partnerschaften einzugehen - nicht zuletzt mit Blick auf den Aufstieg Chinas.

Putins inner circle ist klug genug, Europa nicht erpressen zu wollen: entweder eine Achse mit uns oder ein Bündnis mit Washington und damit gegen uns. Und sie ist wohl auch realistisch genug, um einzusehen, dass Russland mit der Rolle einer Supermacht heillos überfordert wäre. Russland mag auch unter dem neuen Präsidenten eine Sphinx bleiben. Aber ihr Kopf schaut nach Westen.

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