die wahrheit: Mickriges Weimar

Schillers Schädel ist nicht echt. Ist Goethes Gedicht über ihn wenigstens unverfälscht?

Seit dieser Woche ist es bittere Wahrheit: Es ist nicht Schillers Schädel, der in seinem Grabe liegt. Gut, bei manchen Zeitgenossen hat man schon jetzt das Gefühl, dass sie nicht mal im gegenwärtigen Leben mit dem eigenen Kopf herumlaufen.

Goethe wiederum hatte diesen Schiller-Schädel lange Monate neben sich auf dem Schreibtisch stehen und schrieb ihm ein Gedicht - "Bei Betrachtung von Schillers Schädel":

Im ernsten Beinhaus wars, wo ich beschaute, / Wie Schädel Schädeln angeordnet paßten; / Die alte Zeit gedacht ich, die ergraute. / Sie stehn in Reih geklemmt, die sonst sich haßten, / Und derbe Knochen, die sich tödlich schlugen, / Sie liegen kreuzweis, zahm allhier zu rasten. / Entrenkte Schulterblätter! was sie trugen, / Fragt niemand mehr, und zierlich tätge Glieder, / Die Hand, der Fuß, zerstreut aus Lebensfugen. / Ihr Müden also lagt vergebens nieder, / Nicht Ruh im Grabe ließ man euch, vertrieben / Seid ihr herauf zum lichten Tage wieder, / Und niemand kann die dürre Schale lieben, / Welch herrlich edlen Kern sie auch bewahrte, / Doch mir Adepten war die Schrift geschrieben, / Die heilgen Sinn nicht jedem offenbarte, / Als ich inmitten solcher starren Menge / Unschätzbar herrlich ein Gebild gewahrte, / Daß in des Raumes Moderkält und Enge / Ich frei und wärmefühlend mich erquickte, / Als ob ein Lebensquell dem Tod entspränge, / Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte! / Die gottgedachte Spur, die sich erhalten! / Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte, / Das flutend strömt gesteigerte Gestalten. / Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend, / Wie bin ich wert, dich in der Hand zu halten? / Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend / Und in die freie Luft, zu freiem Sinnen, / Zum Sonnenlicht andächtig hin mich wendend. / Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, / Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare? / Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen, / Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.

Monate stand der Schädel also auf Goethes Tisch herum, und dann nur solch ein mickriges Gedicht? Was ist denn das für ein Goethe! Aber gut, wenn es denn der falsche Schädel war, ist vielleicht das die Erklärung.

Immerhin lagen im Grab zwei Schädel zur Auswahl vor. Nach langjährigen Diskussionen kamen Experten zu dem Ergebnis, das mindestens einer von beiden nicht als der echte in Frage käme. Donnerwetter! Nun hat man die Gebeine mit modernsten Methoden untersucht. Die Wissenschaftler haben die nur in der mütterlichen Linie vererbte Mitochondrien-DNS geprüft - und seit meine Mutter das las, möchte sie diese Untersuchung auch an mir vornehmen lassen, da sie sich nicht vorstellen kann, dass das, was in meinem Schädel vorgeht, aus ihrer DNS entstanden sein könnte.

Goethe jedenfalls hat sein Gedicht über den falschen Schädel geschrieben. Was wird nun aus dem Poem? Was machen wir mit diesen Zeilen? Falscher Schädel, falsche Verse? Muss das Gedicht raus aus den Schulbüchern? Sind Goethe womöglich noch mehr Fehler unterlaufen? Wie oft hat er vorm falschen Schrein gedichtet? Und der bedichtete Schädel, wem gehört der? Gibt es neben Schiller und Goethe einen dritten großen Weimarer, der sich nun überraschend zeigt?

Wahrscheinlich hat der Anatom Ludwig Friedrich von Froriep bereits früh Schillers Schädel gestohlen und durch einen täuschend ähnlichen ersetzt, bei dem sogar sieben Zähne neu eingesetzt wurden. Wollte Froriep gar nach Frankenstein-Manier aus Einzelteilen einen ganz neuen deutschen Dichterfürsten zusammennähen? Fragen über Fragen, die nur einer beantworten kann. Im Zweifelsfall Goethe.

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kari

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