Abschiebung: Europäisches Recht vertreibt eine Großfamilie aus Berlin

Eine tschetschenische Familie soll nach EU-Recht abgeschoben werden. Ausgerechnet nach Polen, wo sich die Kriegstraumatisierten unsicher fühlen.

Der achtköpfigen tschetschenischen Familie G. droht heute die Abschiebung nach Polen. Die G.s sind seit 2003 auf der Fucht, ihr Fluchtweg führte sie über Polen nach Berlin. Seit Dezember 2005 leben sie hier. Im Juni 2006 kamen in Berlin Zwillinge, die beiden jüngsten Kinder der Familie, zur Welt.

Mehrere Familienmitglieder sind krank. Die Mutter ist Epileptikerin, der Vater und die zwei ältesten Kinder gelten als schwer traumatisiert: Dem 15 Jahre alten Sohn und der 13-jährigen Tochter wurden Schlafstörungen, Verhaltensprobleme bis hin zu psychosomatischen Störungen attestiert, das Mädchen leidet zudem an Magersucht.

Ihr schlecher Gesundheitszustand veranlasste die Familie, vor zweieinhalb Jahren nach Berlin zu ziehen, obwohl sie in Polen eine Asylanerkennung haben. Die G.s haben hier Verwandte. Außerdem ist in Berlin die Versorgung für traumatisierte Kriegsopfer besser. Die Familie wird vom Zentrum für Folteropfer und von der Menschenrechtsorganisation Xenion, die psychosoziale Hilfe für politisch Verfolgte bietet, therapeuthisch betreut.

Dass die Familie im Rahmen der EU-Verordnung "Dublin II" in Polen als Asylbewerber anerkannt ist, macht ihre Situation in Berlin so schwierig. Die seit 2003 geltende Regelung bestimmt, dass Asylsuchende nur einen Asylantrag innerhalb der EU stellen können. Als zuständig gilt jeweils das Land, in dem die Flüchtlinge zuerst registriert wurden. Im Falle der G.s ist das Polen.

Obwohl vor dem Verwaltungsgericht noch eine Klage auf humanitäre Duldung in Deutschland anhängig ist, hat diese keinerlei aufschiebende Wirkung für den Verbleib in Berlin. Es hieß, die G.s könnten den Ausgang des Verfahrens auch in Polen abwarten, berichtet Sabine Haversiek-Vogelsang vom Zentrum für Folteropfer. Die Organisation hatte sich beim UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR und bei polnischen NGOs über Behandlungsmöglichkeiten für die Familie in Polen informiert. Eine ädaquate therapeutische Betreuung von Traumatisierten sei dort nicht gewährleistet, sagt Haversiek-Vogelsang.

Bereits am Freitag sollte die Familie in einer Schnellaktion und ohne Benachrichtigung ihres Rechtsanwalts abgeschoben werden. Die Beamten trafen aber niemanden an, den G.s wurde als neuer Abschiebungstermin der heutige Tag genannt. Dies, obwohl es grundsätzlich unüblich sei, einen Abschiebetermin anzukündigen, wie Nicola Rothermel, Sprecherin des Innensenators, bestätigte. Zum konkreten Schicksal der Familie G. gab sie jedoch keinerlei Auskünfte.

"Dieser Fall ist hochpolitisch, weil er zeigt, dass das Dublin-II-Verfahren, das eigentlich gleiche Bedingungen für Flüchtlinge in allen EU-Staaten herstellen will, so nicht funktioniert", sagt Haversiek-Vogelsang. Dem Flüchtlingswerk UNHCR und der EU seien die Probleme ebenfalls bekannt. Besonders brisant sei, dass sich die Tschetschenen in Polen nicht sicher wähnten: Sie fühlten sich vom langen Arm des KGB verfolgt. Offenbar nicht nur ein Gefühl der traumatisierten Bürgerkriegsflüchtlinge: "Wir haben mittlerweile bestätigte Hinweise, dass dies auch der Fall ist", sagte die Vertreterin des Zentrums für Folteropfer.

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