Überleben in Berlin (3): Die Mistel: Der Halbschmarotzer, der die Bäume aussaugt

Die Großstadt verdrängt viele Tier- und Pflanzenarten. Andere gewöhnen sich an den Trubel - und lassen sich hier nieder. Parallel zur Biodiversitätskonferenz der Vereinten Nationen in Bonn stellt die taz einige bemerkenswerte Berliner vor.

Das weihnachtliche Geknutsche unter dem Mistelzweig soll ein Ende haben. Immerhin in diesem Punkt sind sich Freunde und Feinde der Weißbeerigen Mistel einig. Wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Die Freunde wollen die Misteln in den Bäumen lassen, anstatt sie an den Türrahmen zu tackern. Die Feinde wollen den Mistelwuchs eindämmen. Es herrscht Zerrissenheit über die Mistel, diesen immergrünen Halbschmarotzer.

In den Kronen der Laubbäume fristet er sein Dasein und entzieht ihnen unter anderem Wasser samt den darin gelösten Mineralsalzen. Das ist per se nicht schlimm und keine ruinöse Verbindung, sofern der Baum sich der Gesundheit erfreut und die Mistel sich nicht allzu breitmacht. Doch sie macht sich breit. Auf Berliner Bäumen, die bereits allerlei urbanen Stressfaktoren ausgesetzt sind. So sieht das zumindest eine lose Gruppe aus Wissenschaftlern der Humboldt-Universität und der FU Berlin. Die warnt in einem offenen Brief: "Unsere Stadt erlebt eine noch nie da gewesene Invasion durch die Weiße Mistel." Am stärksten betroffen seien die Bezirke Steglitz-Zehlendorf und Spandau. Aber die Invasoren hätten auch schon Tempelhof und Schöneberg erreicht. "Bei einem längeren Starkbefall töten sie ihre Wirte durch Entzug lebenswichtiger Vitamine ab", so die Gruppe, die ihre Aussagen auf eigene Beobachtungen stützt. "Die Bäume verkümmern, verkahlen. Die Misteln sterben zuletzt."

Normalerweise verbreiten Vögel die Pflanzen. Sie fressen die Mistelbeeren, können die Samen aber nicht verdauen und scheiden sie wieder aus. Meist bleiben die Samen dann auf Bäumen kleben, wo sie schon bald zu keimen beginnen. Dann wird das Tempo runtergeschaltet: Einen Durchmesser von 50 Zentimetern erreicht die Mistel erst nach ungefähr 30 Jahren.

Ob es die klimatischen Veränderungen sind oder eine Zunahme der Vögel, die die Mistelsamen verteilen - woher die vermutete Invasion rührt, ist nicht belegt. Doch die Berliner Wissenschaftlergruppe bezweifelt, dass die Mistelpopulation in absehbarer Zeit auf natürliche Weise zurückgehen könnte. Um die Ausbreitung der Misteln zu verhindern, schlägt Leiter Matthias Zander vor: "Bäume, die nicht mehr sanierungsfähig sind, sollte man fällen, damit sie nicht weiter als Samenspender dienen können."

Andernorts geht es dem Schmarotzer nicht so gut. In Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern gelten in Laubbäumen wachsende Misteln als gefährdet. In Schleswig-Holstein sind sie ausgestorben. Dabei haben Misteln eine lange Tradition als Heilpflanzen und werden zum Beispiel bei Bluthochdruck verwendet. Homöopathen setzen sie ein bei Muskel-und Gelenkbeschwerden. Zudem liefern sie in der Winterzeit eine Nahrungsquelle für Vögel.

Heidrun Heidecke vom BUND ist sich sicher: "Gesunde Bäume werden nicht durch Mistelbefall sterben." Sie räumt ein, dass es in urbanen Gebieten zwar weniger Bäume gebe als auf dem Land und dass diese wenigen Bäume größeren Schadensfaktoren ausgesetzt sind: "Aber wie viel Prozent des Schadens wird letztlich durch die Mistel herbeigeführt? Und wie viel durch Streusalz, durch Baumverschnitt und andere menschliche Eingriffe?" Ebendies sei nicht genau zu bestimmen.

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Jahrgang 1981, volontierte 2007 im Haus und schrieb dann für die taz aus Ramallah, Kairo, Pankow und Charlottenburg, denn Auslands- und Lokaljournalismus sind Geschwister im Geiste.

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