Lesen: Geschichten lesen fördert die Freiheit des Geistes

An der Kreuzberger Lenau-Grundschule ist Lesen Programm. Dabei helfen 30 ehrenamtliche LesepatInnen. MigrantInnen sind bisher nicht darunter.

Den zehn Kindern, die in die Bibliothek der Lenau-Grundschule in Kreuzberg stürmen, fällt es gar nicht so leicht, zur Ruhe zu kommen. Einige Fächer haben die Erst- und ZweitklässlerInnen heute schon hinter sich. Nun ist Lesestunde, es gibt ein Bilderbuchkino. Doch mit dem Licht des Projektors, mit dem Lydia Bruhns die Bilder aus dem Lesebuch an die Wand projizieren will, lässt sich so schön spielen: Figuren mit den Händen machen oder einfach ein Schattentänzchen aufführen. Es dauert deshalb ein wenig, bis die nötige Konzentration für die Vorlese-Vorführung erreicht ist.

Die Geschichte vom Schaf Charlotte steht auf dem Programm, das zum Ärger der alten Schafe übermütig alle Regeln bricht und dennoch am Ende gerade mit seinem Mut die ganze Herde rettet. Immer wieder stellt Vorleserin Bruhns kleine Zwischenfragen. Denn es ist nicht selbstverständlich, dass alle Kinder den Text auf Anhieb verstehen. Das gilt keineswegs nur für die Kinder aus Migrantenfamilien. Auch Kinder deutscher Herkunft wissen nicht unbedingt, was ein Schäfer ist.

"55 Prozent der in unserem Einzugsbereich lebenden Kinder haben deutsche Eltern", sagt Sibylle Recke, Lehrerin an der Grundschule am Rande des Bergmannkiezes. Drei Viertel der Kinder an ihrer Schule kommen dennoch aus Migrantenfamilien. Denn viele deutschstämmige Kinder werden an anderen Schulen angemeldet. Die Lenauschule leidet wie manch andere Schule unter der Angst vieler Eltern vor dem als zu hoch empfundenen Migrantenanteil.

Dieser "negative Blick auf arme Kinder - auf die aus Migrantenfamilien ebenso wie auf die aus sozial benachteiligten deutschen Elternhäusern" - schmerzt Sibylle Recke: "Er verstärkt ihre Benachteiligung im Bildungssystem." Dabei ist der Einsatz, der an der Lenau-Grundschule dafür geleistet wird, dass kein Kind beim Lernen abgehängt wird, überdurchschnittlich hoch. Das Lesen spielt dabei eine wichtige Rolle - nur wer Texte begreifen kann, kommt im Unterricht mit.

"Wir praktizieren hier Lesekultur", sagt Recke. Als Konzeptentwicklerin für das Landesinstitut für Schule und Medien und im Rahmen des bundesweiten FörMig-Projektes (siehe Text oben) bildet sie LehrerInnen zum Thema Leseinteresse und Lesekompetenz fort. "Es motiviert Kinder, wenn sie merken, dass auch die LehrerInnen gerne lesen", sagt Recke, "das lernen die Kinder dann quasi gleich mit." Lesen werde in den letzten Jahren aber oft wie eine Art Fitnesstraining behandelt, kritisiert sie: "Nicht als kulturelle Tätigkeit, durch die mit Vergnügen gelernt werden kann. Dabei mögen alle Menschen Geschichten. Sie fördern das Weltverständnis und damit die Freiheit des Geistes. Die Bilder in den Büchern geben der Sprache Flügel und helfen so den zweisprachigen Kindern."

Das Bilderbuchkino ist nur ein Teil dieses literarischen Schwerpunkts. Die Kinder der Lenau-Grundschule hantieren täglich mit Büchern. Die Schule verfügt über eine eindrucksvolle Bibliothek: zwei Räume voller Sach- und Bilderbücher, Geschichten, Romane und Märchen aus aller Welt, die täglich für die SchülerInnen geöffnet sind. Auch die Ausleihe übernehmen die Kinder selber. Viele Bücher gibt es gleich mehrfach: "So können die Kinder sie in kleinen Gruppen lesen und später im Unterricht ihren MitschülerInnen vorstellen", erklärt Lehrerin Recke: zum Beispiel mithilfe kleiner Spielszenen oder mit Plakaten zu ihren Lieblingsstellen. "Das Lesen ist hier in viele soziale Aktionen eingebunden. Dadurch ziehen auch die weniger Leseinteressierten nach. Manche Kinder leihen sich in den Ferien bis zu drei Bücher aus", sagt Recke.

In einem Raum der Bibliothek dient ein hölzernes Schiff voller Kissen und Decken als gemütlicher Rückzugsort. Nebenan stehen in einer Ecke die Lese-Rollis: Die kleinen Koffer voller Bücher können die Kinder mit in ihre Familien nehmen. Damit kann auch dort der Umgang mit Büchern und das Vorlesen praktiziert werden. In den Rollis befinden sich auch Bücher in den Herkunftssprachen der Kinder aus eingewanderten oder Flüchtlingsfamilien. Die Vorlesestunden und das Bilderbuchkino gehören zum festen Programm der Lenauschule.

30 LesepatInnen sind seit 2002 an der Schule im Einsatz - überwiegend ehrenamtlich. Nur Lydia Bruhns bekommt für ihre Arbeit ein kleines Honorar. Dafür ist sie nicht nur Vorleserin: Sie kümmert sich auch um die Organisation der Bücherei. Eine andere Lesepatin koordiniert die Mitarbeit der vielen Ehrenamtlichen- und nimmt den Lehrern damit eine Menge Arbeit ab. "Das große Loch in der Bildungsfinanzierung können sie aber nicht stopfen", sagt Recke.

LesepatInnen nichtdeutscher Herkunft hat die Lenau-Grundschule bisher nicht gefunden. Recke vermutet, dass viele Eltern dafür keine Zeit haben. "Sie müssen sich mit ihrer Lebensabsicherung beschäftigen." Doch das Problem der Lenauschule könnte bald gelöst sein: Inzwischen hat die Lehrerin Kontakt geknüpft mit der Vorlesetrainerin Karin Kotsch, die sich auf die Ausbildung migrantischer LesepatInnen spezialisiert hat (siehe Text oben). ALKE WIERTH

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