Verbotsverfahren gegen AKP: "Vernunft ist ein rares Gut"

Der Prozess gegen die türkische Regierungspartei AKP geht in die entscheidene Phase. Ein Verbot der Regierungspartei würde das Land in eine schwere Krise stürzen.

Regierungschef Erdogan droht ebenso wie Präsident Gül ein 5-jähriges politisches Betätigungsverbot. Bild: dpa

ISTANBUL taz "Die Atatürkschen Reformen waren traumatisch für die türkische Gesellschaft", sagte vor wenigen Tagen der stellvertretende Vorsitzende der türkischen Regierungspartei AKP, Dengir Mir Mehmet Firat, in einem Interview mit der New York Times - ein Satz, der einmal mehr all jene bestätigte, die das Verbotsverfahren gegen seine Partei für berechtigt halten. Wenn nämlich, so die Schlussfolgerung, die Abschaffung des Kalifats oder die Ersetzung der Scharia durch ein bürgerliches Gesetzbuch der AKP als Trauma gelten, kann die Therapie wohl nur eine Revision dieser Reformen lauten.

Auch wenn Firat hinterher beteuerte, er habe das mit dem Trauma wertneutral festgestellt, ist die überwiegende Mehrheit der säkularen Türken davon überzeugt, dass die AKP zumindestens dazu beiträgt, das Land Schritt für Schritt zu reislamisieren. Ein diffuses Unbehagen empfinden viele Bürgerinnen und Bürger; der harte Kern der Kemalisten aber ist darüber hinaus felsenfest überzeugt, dass die AKP nicht nur einer Islamisierung Vorschub leistet, sondern gezielt darauf hinarbeitet, den Laizismus abzuschaffen und die Scharia wieder einzuführen.

Die Hoffnungen dieser Fraktion ruhen derzeit auf Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalcinkaya, der an diesem Dienstag vor dem Verfassungsgericht in Ankara sein Schlussplädoyer im Verbotsverfahren gegen die AKP halten wird.

Yalcinkaya wird versuchen, die elf Richter des obersten Gerichts davon zu überzeugen, dass es sich bei der AKP um eine verfassungsfeindliche Organisation mit dem Ziel der Errichtung eines Gottesstaates handelt, und deshalb ein Verbot der Partei fordern. Darüber hinaus wird er beantragen, über 71 führende Funktionäre, darunter Ministerpräsident Tayyip Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül, ein fünfjähriges politisches Betätigungsverbot zu verfügen.

Zwei Tage später, am Donnerstag, werden die Anwälte der AKP Gelegenheit bekommen, darauf zu antworten. In ihrem Schlussplädoyer dürften sie wiederholen, was sie bereits in der schriftlichen Verteidigung vorgetragen haben: Dass die AKP eine moderne säkulare Partei sei, die den Laizismus besser verteidige als die anderen Parteien der Türkei. Danach wird der Berichterstatter für das Verfahren seinen Abschlussbericht formulieren, und gegen Ende Juli oder Anfang August rechnet man in der Türkei mit dem Urteil.

Auch wenn man in der AKP weiterhin der Auffassung ist, dass die Partei Opfer eines politischen Komplotts werden und das Gericht ihr Verbot beschließen wird, spekulieren die meisten Kommentatoren verstärkt über Alternativen, zu denen das Gericht gelangen könnte.

Murat Yetkin, der Parlamentskorrespondent der linksliberalen Tageszeitung Radikal, schrieb kürzlich, dass das Worst-Case-Szenario - Auflösung der Partei und Politikverbot für Erdogan - nicht unbedingt das wahrscheinlichste ist. So könne das Gericht zwar Verstöße gegen das Laizismusgebot der Verfassung feststellen, die Verstöße aber als nicht ausreichend für ein Verbot befinden und stattdessen lediglich eine Geldstrafe verhängen. Denkbar sei aber auch, dass die Partei zwar verboten werde, ihre wichtigsten Leute aber weiterhin aktiv bleiben könnten. In diesem Fall könnten die Funktionäre in eine Nachfolgepartei ausweichen, und Erdogan bliebe im Amt.

Aus Sicht der kemalistischen Eliten böten beiden Varianten einen klaren Vorteil: Ohne ganz große Verwerfungen zu riskieren, hätte man die AKP gemaßregelt und ihr deutlich gemacht, dass sie eine bestimmte Grenze nicht zu überschreiten hat. Wo diese Grenze liegt, hat das Gericht mit der Aufhebung der Verfassungsänderung, die Studentinnen das Tragen eines Kopftuchs an Universitäten erlauben sollte, aufgezeigt. Yetkin erwartet, dass Erdogan in einem solchen Fall versuchen würde, eine neue Verfassung im gesellschaftlichen Konsens zu erarbeiten und die Kopftuchfrage in einen Katalog erweiterter Freiheitsrechte einzubringen, der dann tatsächlich der Demokratisierung des Landes dienen würde.

Das ist die optimistische Sicht auf die kommenden Wochen und Monate. Falls aber das Gericht der Staatsanwaltschaft folgt, könnte die Türkei schon bald in eine beispiellose Situation geraten: Die mit einer großen Mehrheit gewählte Regierung wäre abgesetzt, und das Land stünde erst einmal kopflos da. Wofür es in der Vergangenheit noch eines Putsches bedurfte, hätte das Verfassungsgericht erledigt.

Das darauf folgende Machtvakuum hätte allerdings schwer kalkulierbare Folgen. Sicher dürfte es Neuwahlen geben, doch überhaupt nicht absehbar ist, wer sich dann zur Wahl stellen würde. Das Personal der AKP würde bestimmt versuchen, eine Ersatzpartei zu gründen, doch ohne Erdogan und die gesamte Führungsriege dürfte es sehr schwierig werden, einen Zerfall zu verhindern.

Selbst wenn es Erdogan gestattet wäre, als Unabhängiger bei Neuwahlen zu kandidieren - das geforderte Politikverbot bezieht sich der Meinung der meisten Juristen nach nur auf seine Parteifunktionen -, würde er es schwerer haben, wieder eine Regierung zu bilden. Andererseits wird in der kurzen Zeit bis zu Neuwahlen kaum eine neue Formation entstehen, die dazu in der Lage wäre, das Land aus der Konfrontation zwischen Religiösen und Laizisten zu führen.

Es droht eine Dauerkrise, mit außenpolitischer Isolation und schweren wirtschaftlichen Folgen. Ob die Verfassungsrichter dieses Risiko eingehen werden? "Vernunft", schrieb ein anderer führender Kolumnist, Mehmed Ali Birand, kürzlich, "ist ein rares Gut in der türkischen Politik".

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