Ein Bett in Berlin (Teil 6): Zelten im Innenstadtidyll
Regen, Punks, die sich auf dem Boden wälzen und feiernde Nachbarn: Wie man eine Nacht auf der Tentstation trotzdem übersteht.
Es ist Sommer. Alle fahren in den Urlaub. Weg aus Berlin. Oder gerade dorthin. Denn längst ist Berlin zur Touristenstadt mutiert. Allein im Monat Mai übernachteten 728.300 Gäste in Berliner Herbergen. Die taz hat sich ihnen angeschlossen - und eine Reihe von Schlafplätzen in Berlin getestet.
In unserer Serie "Ein Bett in Berlin" berichten wir den Sommer über von knarzenden (oder gar keinen) Betten, Luxussuiten und den Menschen im Hotel.
Am Telefon meldet sich eine Männerstimme. Es ist Peter. "Du bist immer willkommen", versichert er. "Aber muss es unbedingt heute sein?" In Brandenburg finde gerade ein großes Rock-Pop-Festival statt. Für die Teilnehmer sei die Tentstation - Berlins einziger innerstädtischer Zeltplatz - als Schlafplatz ausgesprochen attraktiv. Und dann sei da noch eine große Schülergruppe aus Frankreich gekommen. Alles junge Leute also. "Normalerweise haben wir hier auch Familien", sagt Peter. "Auf die Familien legen wir auch Wert." Zwischen den Zeilen schwingt mit: Auf dem Platz ist zurzeit mächtig Party. Du tust dir keinen Gefallen, wenn du nachts kein Auge zumachst.
Aber es muss heute sein. Schlimmer als drei Wochen Campen bei strömendem Regen im Gebirge kann es nicht kommen. Selbst wenn sich 100 besoffene Punks vor dem Zelt im Gras wälzen. Und wozu gibt es Ohropax?
Die Tentstation befindet sich auf dem Gelände eines stillgelegten Freibads in Mitte, nur fünf Minuten Fußweg vom Hauptbahnhof entfernt. Jugendliche mit punkigen Frisuren, bepackt mit Rucksäcken, Lebensmitteltüten und Bier-Sixpacks, streben in Kleingruppen Richtung Eingang. Am Himmel türmen sich dunkle Wolken. Den ganzen Tag hat es geregnet. Aber als die letzten Gäste gegen 20.30 Uhr einchecken, hört es auf.
An der Rezeption sitzt Sarah. Gerade hat sie einem italienischen Gast mit einem gewinnenden Lächeln auf Englisch erklärt, wo die Bar ist. "Letzte Nacht war es hier ganz schön heftig", erzählt Sarah auf dem Weg zu der Wiese, wo die Zelte stehen. "Ich werde heute sehr streng sein", kündigt sie an. Und meint damit, dass sie keinen Lärm dulden wird, wenn sie ihre nächtlichen Runden dreht.
Die Wiese ist von Zelten übersät. Kleine, große, runde, eckige. Klassische Formen, tunnel-, iglu- und ufoartige. Alle Farbschattierungen und Fabrikate sind vertreten. Die Regenpause wird dazu genutzt, nasse Klamotten zum Trocknen aufzuhängen, Isomatten vor den Zelten aufzurollen, Lebensmittel auszubreiten. In den Campingkochern brodeln die Nudeln. Der Altersdurchschnitt ist gefühlte 17. Betagtere Gesichter sind eindeutig in der Minderheit. Aber es gibt sie.
Zwischen den Zelten einer Familie aus Oldenburg - er EDV-Dozent, sie Arzthelferin, dazu fünf jugendliche Kinder im Alter von 13 bis 15 Jahren - ist noch ein bisschen Platz für ein kleines Zelt. Wenn die Sturmleinen nicht gespannt werden, passt es gerade so in die Lücke. Gegenüber haben es sich vier junge Spanierinnen, Punk-Schönheiten mit langen schwarzen Haaren, Miniröcken und Netzstrümpfen mit großen Löchern, vor ihrem Zelt gemütlich gemacht. Sie unterhalten sich lebhaft. "Mañana, mañana", heißt es eins ums andere Mal.
Das Wetter hält. Mehr noch. Es klart auf. Kurz nach 21 Uhr bringt die untergehende Sonne den Himmel zum Glühen. Eine märchenhafte Stimmung liegt über dem dicht mit Bäumen und Büschen bewachsenen Gelände. Die Blätter dampfen den Regen aus, es riecht nach Erde und Laub. Ein babylonisches Stimmengewirr gemischt mit Ska-Musik dringt von der einstigen Schwimmbadtribüne rüber. Dort befindet sich die Bar. "Wir haben heute mal ein bisschen was Härteres aufgelegt", sagte Bernd mit Blick auf die Punks mit den vielen Piercings, die auf einem Teppich hocken, quatschen, rauchen und Bier trinken. "Sonst spielen wir eher softere Sachen."
Das 25 Meter lange, einstmals hellblau gestrichene Schwimmbecken mit Graffiti an der Oberkante ist leergepumpt. An der tiefsten Stelle hat sich eine Regenpfütze gebildet, darüber flattert ein großes weißes Segel. Die Stimmen von zwei jungen Männern, die auf dem Beckengrund mit einem Ball kicken, hallen herauf. Überall blättert die Farbe, bröckelt der Putz. Auch am Sprungturm nagt der Rost. Aus den Treppenstufen der Tribüne wachsen Birken. Manche sind schon richtige kleine Bäume. Ihre Wurzeln machen den Beton kaputt. Aber man lässt sie gewähren. Zum Glück. Noch.
Sarah, Bernd, Peter und Jessica haben das stillgelegte Schwimmbad 2006 vom Liegenschaftsfond an Land gezogen. Da war das Bad schon vier Jahre dicht. Rechtzeitig zur Fußball-Weltmeisterschaft eröffneten sie die Tentstation. Die Presse berichtete groß. Auch im Ausland. Eine bessere Werbung hätten sich die vier nicht wünschen können. Seither ist das Gelände im Juli und August nahezu ausgebucht. Elf Euro kostet die Nacht für Erwachsene. Zelte und Isomatte gibt es umsonst. Billiger kann man in Berlin nur in einem 16-Bett-Zimmer im Hostel übernachten.
Die vier jungen Leute investierten in die Anlage mehrere zehntausend Euro. Zusammengeborgtes Geld von Verwandten und Freunden. Einen Bankkredit bekamen sie nicht. In den alten Duschräumen wurden Waschbecken und eine funktionierende Warmwasseranlage installiert. Die überdachte Tribüne wurde mit Möbeln aus einem Pralinenladen der 50er-Jahre zu einer Bar umgebaut. Die Sitzmöbel wurden aus dem Trödel recycelt. In den Bäumen und den Gemäuern der Schwimmbecken installierten sie Lampen. Diese lassen die Szenerie nachts noch verwunschener erscheinen.
Es ist dunkel. Bernd erzählt beim Bier: Bestehendes erhalten und mit Kunst verbinden, das sei ihr Konzept. "Was würden wir hier alles machen, wenn man uns ließe." Sein Blick schweift zum weißen Segel hinüber. Es klingt wehmütig.
Die Zukunft der Tentstation ist mehr als ungewiss. Der Vertrag ist nur ein Zwischennutzungsvertrag. Binnen zwei Wochen kann dem Projekt gekündigt werden. Bis zum Saisonende im Herbst wird vermutlich nichts mehr passieren. Aber dann? Wird es einen vierten Sommer auf dem Gelände geben? Gerüchte besagen, es gebe einen Investor, der auf dem Areal ein Wellnessbad errichten wolle.
Mitternacht. Fünf junge Franzosen und ebenso viele Italiener haben sich in dem sandgefüllten Becken beim Fußball verausgabt. Barfuß haben sie das Finale der WM 2006 nachgespielt. Auch die Zuschauer auf der Tribüne haben sich köstlich amüsiert.
Zeit, ins Zelt zu kriechen und sich im Schlafsack zu vergraben. Ganz tief. Die Nacht ist sternenklar und kalt. Die Spanierinnen sitzen immer noch, oder schon wieder, vor ihrem Zelt. Sie haben Pullover und lange Hosen angezogen und sprechen gedämpft. Das Zelt der Oldenburger ist dunkel. Aus der Ferne tönt Musik herüber. Sanft und leise wie ein Schlaflied.
Vogelstimmen verkünden den Morgen. Von nächtlichem Pogo keine Spur. Die Ohropax-Packung liegt unangetastet im Rucksack. Sarah hat ihren Laden gut im Griff - da kann man sich nochmal umdrehen und weiterschlafen.
Das nächste bewusst wahrgenommene Geräusch ist das von Reißverschlüssen. Ein verstohlener Blick aus dem Zelt zeigt: Die volle Blase treibt einen Zeltnachbarn zum Klo, vor dessen Eingang zahlreiche Heineken-Flaschen liegen. Ein Wunder, dass er so lange durchgehalten hat. Oder sollte er am Ende gar …? Nein, das verbietet die Campermoral.
Pünktlich um halb neun macht Jessica die Bar auf. Das Frühstück - Kostenpunkt drei Euro - überzeugt: Zum knusprigen Croissant reicht sie einen frisch gemahlenen Espresso mit aufgeschäumter Milch. Nur die Stereoanlage streikt. Macht aber gar nichts.
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