"Schwarzbuch Leiharbeit" der IG Metall: Wenig zahlen, schnell feuern
Sonntagabend spontan noch mit dem Rad zur Spätschicht im neuen Betrieb: Viele Leiharbeitsfirmen quetschen ihre Mitarbeiter aus, berichtet die IG Metall.
FRANKFURT/MAIN taz Nach 120 Stunden Schuften als Leiharbeiter in verschiedenen Firmen bekam der Automechaniker Joachim B. von seiner Verleihfirma das Monatsgehalt aufs Konto überwiesen: 575 Euro. Ein Hungerlohn. Joachim B. hatte den Vertrag unterschrieben, weil ihm sonst das Arbeitslosengeld II gestrichen worden wäre. Nach Monaten gefeuert wurde der einfache Arbeiter, weil er sich weigerte, sich an einem Sonntagabend umgehend zur Spätschicht in einem neuen Betrieb einzufinden. Die Firma lag zehn Kilometer von seinem Wohnort entfernt und es gab keine Busverbindung. Bei Eis und Schnee sollte Joachim B. das Fahrrad nehmen.
Nur ein Beispiel von vielen im "Schwarzweißbuch Leiharbeit", das der Zweite Vorsitzende der IG Metall, Detlef Wetzel, am Mittwoch in der bombastischen neuen Deutschlandzentrale der IG Metall in Frankfurt vorstellte. In keiner anderen Branche seien Armutslöhne so verbreitet wie in der Leiharbeit, sagte Wetzel und verwies auf Statistiken der Bundesagentur für Arbeit. Danach müssten 12,6 Prozent aller in der Leiharbeit sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten ihr Einkommen noch mit Arbeitslosengeld II aufstocken, um einigermaßen über die Runden kommen zu können. In allen anderen Wirtschaftsbereichen zusammengenommen seien es durchschnittlich nur 2,8 Prozent. Oder sie müssen neben ihrem Vollzeitjob als Leiharbeiter noch eine steuer- und sozialabgabefreie Beschäftigung auf 400 Euro-Basis annehmen. Bei der Leiharbeit, so lautet die Schlussfolgerung der Gewerkschaft, werde "hunderttausendmal täglich in Deutschland" gegen Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verstoßen: "Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit."
Auch gefeuert wird in der Branche schnell. Der bei einer Zeitarbeitsfirma angestellte Anlagenmechaniker Carsten S. etwa arbeitete für 7,50 Euro brutto die Stunde im Dreischichtensystem sechs Tage die Woche bei einem Automobilzulieferer. Als er wegen eines Arzttermins versuchte, einen Termin im Personalbüro seines Verleihers zu verschieben, wurde ihm tags darauf fristlos gekündigt.
Im "Schwarzweißbuch" der Gewerkschaft wird aber nicht nur angeklagt, sondern es werden auch Auswege aus der Misere aufgezeigt. "Wir handeln", ist das Motto der IG Metall. Wetzel verwies auf 380 "Besser-Abkommen", die Gewerkschaft und Arbeitgeber der Branche abgeschlossen hätten. Die Situation der dort eingesetzten Leiharbeiter habe sich danach "sehr zum Positiven verändert". In einigen Fällen sei es sogar gelungen, die Bezahlung an die der Stammbelegschaft anzugleichen. Zeitgleich wurden in Hessen und Thüringen mit inzwischen 60 Prozent der dort tätigen Zeitarbeitsfirmen "Fairnessvereinbarungen" über die Einhaltung von bestehenden Tarifverträgen ausgehandelt. Der für die IG Metall positive Nebeneffekt dabei: 9.000 Leiharbeiter sind dieses Jahr Gewerkschaftsmitglieder geworden.
Von der Politik fordert die IG Metall die Festlegung allgemein gültiger Mindestlöhne für die Leiharbeitsbranche und die Aufnahme dieses wachsenden Beschäftigungssektors in das Entsendegesetz. Das Lohndumping müsse beendet werden. Die Führung der Union blocke zwar noch stur alles ab, "aber an der Basis der CDU sind die Menschen mehrheitlich längst dafür", glaubt Wetzel zu wissen. Übrigens: Lob und Anerkennung für die Arbeit von Leiharbeitern, durch die sich der Verleiher und die von ihnen "bedienten" Betriebe goldene Nasen verdienten, gebe es auch. Ein von der IG Metall befragter Leiharbeiter bekam von seinem Verleiher sogar ein Dankschreiben - und zwei Rubbellose.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Trumps Krieg gegen die Forschung
Byebye Wissenschaftsfreiheit
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Merz stellt Reform in Aussicht
Zarte Bewegung bei der Schuldenbremse
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Altvordere sollen Linke retten
Hoffen auf die „Silberlocken“