Hamburger Schulsystem: Nebenwirkungen einer Traumreform

In Hamburg sollen die Kinder erst nach der 6. Klasse sortiert werden. Kritiker warnen, dass Reformschulen dabei unter die Räder kommen könnten. Der Grundschulverband ist euphorisch.

Die schwarz-grüne Traumreform wird in ganz Deutschland beobachtet. Bild: dpa

In Hamburg sammelt in diesen Tagen das Volksbegehren "Eine Schule für alle" Unterschriften. Die Initiatoren wollen per Volksentscheid eine gemeinsame Schulzeit für alle Kinder von der 1. bis zur 10. Klasse erreichen. Dies soll in mehreren Schritten möglich gemacht werden: Nach der 4. Klasse können die Eltern eine weiterführende Schule frei wählen. Ab 2012 müssten dann alle Schulen, auch die Gymnasien, die Kinder aufnehmen, die kommen. Zuvor sollen die Lehrer in einer dreijährigen Vorlaufzeit für die individuelle Förderung qualifiziert werden. Abschulen oder Sitzenbleiben soll es nicht mehr geben. Erreicht die Initiative bis zum 9. Oktober 61.000 gültige Unterschriften, kann sie per Volksentscheid parallel zur Europa- oder Bundestagswahl 2009 ihren Vorschlag zum Gesetz machen - falls ein Viertel der wahlberechtigten Hamburger (220.000 Stimmen) dem zustimmt. Zugleich gibt es in Hamburg die Gegeninitiative "Wir wollen lernen". Sie will die sechsjährige Primarschule von Schwarz-Grün verhindern und plant ihren Volksentscheid für 2010. Sollte aber "Eine Schule für alle" 2009 ihren Entscheid gewinnen, wäre "Wir wollen lernen" obsolet. Denn zwei Jahre lang darf kein Gegenplebiszit stattfinden. KAJ

Elternabend einer 6. Klasse, Gymnasium in Hamburgs Westen. Die Stimmen für die Sprecherwahl sind noch nicht ausgezählt, da verkündet eine Elternvertreterin eine "Bitte des Elternrates". Die Anwesenden möchten doch bitte die Volksinitiative "Wir wollen lernen" unterschreiben. Diese Initiative kämpft gegen die geplanten sechsjährigen Primarschulen. "Damit Sie als Eltern weiter entscheiden können, dass ihr Kind aufs Gymnasium kommt", begründet die Frau.

Der Zettel geht rum. "Nö, das unterschreib ich nicht", sagt die erste Mutter. Sie reicht den Zettel an ihren Ehemann - der unterschreibt. Vier weitere Eltern signieren das Papier. Nächster Tagesordnungspunkt: Sollen die Eltern den heruntergekommenen Klassenraum streichen? Die Lehrerin winkt ab. Das sei nicht nötig, warnt sie, nicht wenige Schüler müssten das Gymnasium verlassen - "vermutlich werden die Klassen dann im nächsten Jahr neu gemischt".

Mit dem Recht der Eltern, über die Schulkarriere ihrer Kinder mitzubestimmen, ist es in Hamburg so eine Sache. Derzeit haben Eltern zwar formell die Wahl, ob sie es am Gymnasium anmelden. Ob es bleibt oder ob es in Haupt- und Realschule herausgesiebt wird, darüber entscheiden allein die Lehrer und ihre Noten.

Nun soll alles anders werden im neuen Schulsystem, das CDU-Bürgermeister Ole von Beust zusammen mit den Grünen einführen will. Hamburgs Grundschulen heißen künftig "Primarschulen". Sie sollen den Kindern ein längeres gemeinsames Lernen bis zum Ende der 6. Klasse ermöglichen. "Unser Ziel ist, dass es weniger Schulabbrecher und mehr Abiturienten gibt", sagt Bildungssenatorin Christa Goetsch (Die Grünen).

Die Reform wird es mit sich bringen, dass Hamburg die Kinder nur noch einmal auf verschiedene Schulformen aufteilt - nach der 6. Klasse. Zum einen gibt es dann für Kinder, denen Lehrer das um ein Jahr verkürzte Abitur zutrauen, eine "Gymnasialberechtigung". Zum anderen können Schüler zur neuen Stadtteilschule übergehen. Auch sie bietet den Weg zum Abitur an und lässt den Kindern dabei ein Jahr mehr Zeit. Mit anderen Worten: Auch wer es nach Klasse 6 nicht aufs Gymnasium schafft, behält die Chance aufs Abi.

Das ist eine kleine Revolution für die Schule. Denn kein anderes Bundesland vereinfacht seine Schularten so klar. Und verbessert zugleich so intensiv die Grundschulen. Dank ihrer modernen Pädagogik sind sie bisher schon erfolgreich in der Förderung der Schüler. Nun erhalten sie mehr Größe und Gewicht, eine starke Schulleitung, ein eigenes Budget und intensive Fortbildungen. Damit leistungsstärkere Kinder sich in den 5. und 6. Klassen nicht langweilen, sollen Fachlehrer aus den Gymnasien hinzukommen. "Ich bin euphorisch", sagte Lehrerin Susanne Peters vom Hamburger Grundschulverband. "Für die Grundschulen bieten sich unglaubliche Möglichkeiten."

Doch die schwarz-grüne Traumreform, die ganz Deutschland beobachtet, hat auch Risiken und Nebenwirkungen. Deren Ausmaß wird erst nach und nach deutlich. Seit einer Woche tagen in Hamburg 22 Regionale Schulkonferenzen, in denen Schulleiter, Lehrer und Eltern "Empfehlungen" erarbeiten. Auf deren Grundlage will die Schulbehörde im Frühjahr einen Plan für die ganze Stadt schmieden. Motto: Nicht von oben, sondern von unten wird geplant.

"Es wird erwartet, dass alle da brav mitmachen", sagt Katrin Kuhls. "Aber an der eigentlichen Entscheidung, die Primarschule einzuführen, hat es null demokratische Beteiligung gegeben." Kuhls ist Elternratsvorsitzende an der Erich-Kästner-Schule in Hamburg-Farmsen. Dort lernen die Kinder schon seit 30 Jahren von der Vorschule bis zur 13. Klasse gemeinsam. Wie viele andere Hamburger Gesamtschulen ist die Kästner-Schule weiter als die schwarz-grüne Schulreform - doch genau das bereitet nun Probleme.

"Diese Schulen sind funktionierende Gebilde, die durch die Primarschulreform kaputtgemacht werden", sagt Kuhls. So habe "Erich Kästner" ein Konzept der Schülerbeteiligung ab der 1. Klasse, das sich so nicht fortführen ließe. Auch aufwendig entwickelte neue Unterrichtsmethoden gingen verloren - etwa das Lernen mit sogenannten Kompetenzrastern .

Zwar können Primarschulen mit weiterführenden Schulen in ihrer Nähe kooperieren und sogar Lehrer und Konzepte teilen. Doch für den Leiter der Albert-Schweitzer-Reformschule in Hamburg-Ohlsdorf, Olaf Pahl, wäre das keine Lösung. An der nach den Plänen der Reformpädagogin Erna Stahl vor 60 Jahren gegründeten Schule lernen die Kinder seit je bis zur mittleren Reife in Musikklassen zusammen. "Wir wollen uns nicht entscheiden, ob wir Primarschule oder Stadtteilschule werden", sagt Pahl. "Wir finden es völlig überflüssig, nach der 6. Klasse eine Zäsur zu machen und die Kinder in Stadtteilschüler und Gymnasiasten aufzuteilen."

In einer Zwickmühle sieht sich auch das Kollegium der Integrierten Haupt- und Realschule Othmarscher Kirchenweg. Sie ist eine überschaubare Schule mit zwei Klassenzügen, an der behinderte Kinder und Kinder mit Lernschwierigkeiten seit Jahren erfolgreich in den Unterricht integriert werden. "Rein von der Raumgröße her müssten wir uns entscheiden, ob wir Primarschule werden und die Großen abgeben - oder Stadtteilschule werden und die Kleinen abgeben", berichtet Sabine Todt vom dortigen Elternrat. Ihr Wunsch wäre, dass die auf Integration spezialisierte Schule erhalten bleibt und in der Oberstufe mit einem Gymnasium in der Nähe kooperiert.

Dafür wäre eine Ausnahmegenehmigung nötig, wie sie der SPD-Oppositionspolitiker Ties Rabe für mehrere der insgesamt 64 existierenden "Langformschulen" fordert. Doch die Bildungsbehörde will sich darauf nicht festlegen. "Wir wollen den Empfehlungen der Regionalen Konferenzen nicht vorweggreifen", sagt deren Sprecherin.

Es soll auch Grundschulzweige an Gesamtschulen geben, die über eine Eigenständigkeit froh wären. Die Problematik der Langformen sein "ein Wermutstropfen für einige wenige Schulen", sagt Grundschulvertreterin Susanne Peters. Es sei aber gut, wenn Primarschulen eigenständig sind und ein eigenes Budget haben. Wenn es um die Verteilung des Geldes für Computer oder Fachräume ging, seien "die Kleinen sonst immer zu kurz gekommen". Das Problem sei wohl, dass sich viele Lehrer nicht vorstellen könnten, abwechselnd an zwei Schulen zu arbeiten.

Das blüht auch vielen Gymnasiallehrern. Hamburgs Oberschulen verlieren 2010 dank Turbo-Abitur ohnehin den 13. Jahrgang und nun auch noch die Jahrgänge 5 und 6, also ein Drittel ihrer Schüler. Damit nun nicht jedes dritte Gymnasium schließen muss, gibt es auf Wunsch der CDU bereits eine Art Bestandsgarantie für kleine Standorte. "Richtige Begeisterung kann ich nicht feststellen", sagt Meike Jensen vom Elternrat des Gymnasiums Allee in Altona. Die Schule liegt in einem Multikulti-Viertel und bringt auch Kinder, die nicht optimale Startchancen haben, zum Abitur. "Ich möchte, dass das so bleibt, und habe ein Problem damit, dass Eltern bei der Schulformwahl künftig gar kein Wörtchen mehr mitzureden haben."

Damit meint sie das bis heute noch gültige Elternwahlrecht, das im Primarschulkonzept nicht mehr vorkommt. "Ich habe Angst", sagt Jensen, "dass die Selektion nach Klasse 6 künftig sehr stark wird." Wenn nur die Zeugniskonferenzen entscheiden, auf welche Schule ein Kind kommt, könnte die Administration die Schülerströme "lenken, wie es ihr gerade passt".

Damit spricht Jensen ein heikles Thema an. Die Frage, nach welchen Kriterien entschieden wird, ob ein Kind die Gymnasiumsberechtigung bekommt, ist offen. Derzeit gehen in Hamburg 50 Prozent der Grundschüler aufs Gymnasium, in der 7. Klasse sind nur 40 Prozent eines Jahrgangs da, in der 10. Klasse noch 36 Prozent. Das heißt, schubweise verschwinden die Schüler aus den Gymnasien. Das soll es künftig nicht mehr geben. Hamburgs Gymnasien sollen die Kinder von der 7. bis zur 10. Klasse behalten. In Lehrerkreisen kursierte, dass die Bildungsbehörde diesen Schwund vorwegnehme und nach Klasse 6 viel schärfer als bisher sieben werde. Nur noch 30 Prozent sollen aufs Gymnasium kommen, hieß es. Schulsenatorin Goetsch dementierte das. "Es wird keine Quote geben. Wenn 50 Prozent den Übergang zum Gymnasium schaffen und das Abitur machen können, dann werden wir dies doch nicht mit einer Quote unterbinden", so Goetsch.

Allerdings ließ sie zum Start der Schulkonferenzen offen, nach welchen Kriterien künftig die Gymnasiumsberechtigung vergeben wird. Die Rede ist von "diagnosegestützten Verfahren" und Beratungsgesprächen mit den Eltern. Auch räumen Behördenvertreter hie und da ein, dass die 30 Prozent eine "realistische Planungsgrundlage" für die künftigen Gymnasien seien. "Ich fürchte, die strengeren Maßstäbe nach Klasse 6 werden automatisch kommen", sagt dazu Gymnasiallehrer Hans Voß. Wenn die Schulzeitverkürzung erst in der 7. Klasse beginne, werde "das Turbo-Abitur noch turbomäßiger".

Gerade in Pädagogenkreisen können viele gut mit der Vorstellung leben, dass das Gymnasium kleiner und damit feiner wird - und es dafür eine starke Stadtteilschule mit vielen Kindern gibt. Allerdings - diese Sortierung passt überhaupt nicht zum Anspruch der Primarschule, mehr Kindern zu höheren Bildungsabschlüssen zu verhelfen.

So warnte denn auch die Arbeitsgemeinschaft der Gesamtschule-Elternräte vor der Sortierung der Schüler zu Beginn der Pubertät. Ein "diagnosegestütztes Verfahren", das mehr als die Hälfte der Schüler aussortiert, werde bei diesen Schülern "die Lernmotivation nachhaltig beschädigen und blockieren".

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