Montagsinterview im Freien Neukölln: "Wir würden diese Kneipe lieber im nichtkapitalistischen System betreiben"

Die Filmmacher Matthias Merkle und Antje Borchardt waren die Ersten, die mit dem "Freien Neukölln" den Kneipenboom in Berlins ärmsten Kiez ausgelöst haben.

Mit unserem Publikum sind wir sehr glücklich. Es sind Leute, die ohne großes Gehabe diesen Laden als ihre Kneipe ansehen. Bild: Gordon Welters

Matthias Merkle (38) ist Regisseur, Filmautor und Kneipier. Der gebürtige Freiburger lebt seit Anfang der 90er-Jahre in Berlin. Zu Merkles Großtaten zählen die 9(1)/2-stündige Inszenierung des spanischen Lesedramas von Fernando de Rojas "Die Celestina" als Theater-Soap in sieben Folgen.

Antje Borchardt (42) ist Dramaturgin und Kneipier. Sie kam 1988 aus Osnabrück nach Berlin. Sie hat nach dem Mauerfall den Schoko-Laden an der Ackerstraße in Mitte mit besetzt und einige Jahre dort gearbeitet. Mit Merkle gründete sie 2005 die Produktionsfirma Retsina-Film. Borchardt und Merkle sind auch privat ein Paar.

Das Freie Neukölln: Am Wochenende feierte die Kneipe zweijähriges Bestehen. Borchardt und Merkle hatten 2006 die ehemalige Eckkneipe an der Pannierstraße übernommen und nur wenig renoviert. Sie löste den Nordneukölln-Boom aus. Wegen seiner Nähe zu Kreuzberg wird das Viertel auch Kreuzkölln genannt.

Der Sender Freies Neukölln ging vor einem Jahr ins Netz. Seither präsentieren Merkle und Borchardt monatliche neue Ausgaben, unter anderem mit einer Ansprache des Negierenden Bürgermeisters. Das Programm scheint witzig, ist im Kern aber ernst gemeint.

taz: Herr Merkle, Frau Borchardt, sind Sie reich?

Matthias Merkle: Es kommt darauf an, wie Reichtum definiert wird. Ich würde sagen: In der heutigen Gesellschaft ist man schon reich, wenn man seinen Unterhalt finanzieren kann und keine Unterstützung vom Staat benötigt. Insofern sind wir reich. Wir machen, was wir wollen, und wir können davon leben.

Dann passen Sie eigentlich nicht nach Nordneukölln. In diesem Kiez gibt es die höchste Arbeitslosenquote, die meisten Hartz-IV-Bezieher der Stadt und viele arme Migranten.

Antje Borchardt: Statistisch gesehen mag das so sein. Aber das ist nur die eine Seite. Wir nehmen diesen Kiez als sehr gemischt und vielfältig wahr.

Inwiefern?

Merkle: Ich empfinde Neukölln als lebendig und urban. Im Prenzlauer Berg kommen viele Leute zwar auch aus der sogenannten kreativen Klasse. Sie leben dort inzwischen aber so angepasst wie in der westdeutschen Provinz. Das war für uns vor sechs Jahren das Hauptmotiv, nach Neukölln zu kommen. Hier gibt es neben den so oft beschriebenen Migranten und Hartz-IV-Empfängern auch viele Studenten und Künstler. Neben dieser Kneipe machen wir ja auch Filme. Ohne die hiesigen Probleme klein zu reden - Neukölln spiegelt unsere Gesellschaft viel realistischer wider als Mitte. Wir wollten mehr Realität.

Zitat unseres Regierenden Bürgermeisters: Arm, aber sexy.

Merkle: Das ist schon ein ziemlich zynischer Spruch.

Ja, eben.

Borchardt: Verstehen Sie uns nicht falsch: Wir sind nicht hier, um Themen für unsere Filme aus der Armut anderer zu zerren. Aber diese Vielfalt bewirkt ja auch, dass man sich hier unbefangener bewegen kann als woanders. Im Prenzlauer Berg wird man schief angeguckt, wenn man bei Rot über die Straße läuft. Man ist dann ja ein schlechtes Vorbild für die vielen Kinder. So etwas passiert einem in Neukölln nicht. Hier sind die Leute so unterschiedlich, dass sich kaum Alltagsnormen etablieren können.

Hat nicht genau dieser Nonkonformismus auch mit Armut zu tun?

Merkle: Wenn man in dieser Gesellschaft viel Geld verdienen möchte, neigt man sicherlich eher dazu, staatstragender und konformer zu wirken. Wer diese Ambitionen nicht hat, muss sich das auch nicht antun. Insofern haben Sie Recht. Wir haben in unseren Filmen aber nie von oben herab auf die Sozialschwachen geschaut.

Sondern?

Borchardt: Anders als am Kollwitzplatz wird in Neukölln nicht vergessen, dass mit der Gesellschaft was nicht stimmt. Hier kommen die Probleme eines Einwanderungslands zum Tragen und Armut wird nicht versteckt. Das macht dieses Viertel authentisch, aber auf eine Art auch lebenswerter. Ich kenne eine Menge Leute, die nur so viel arbeiten, um gerade so ihren Lebensunterhalt finanzieren zu können. Die übrige Zeit nutzen sie für Dinge, für die sie sich wirklich interessieren und die ihnen Spaß machen - Kunst zum Beispiel.

Aber irgendwie profitieren Sie doch mit Ihrer Kneipe vom Image des armen Neuköllns.

Merkle: Das ist das Ärgerliche am Kapitalismus. Zu unserer Verteidigung muss ich sagen, dass dieses Image vom armen, kaputten Neukölln als Marke von uns nicht gezielt betrieben wird. Wir haben diesen Laden für Leute aufgemacht, die wie wir hier leben, und nicht, weil wir gezielt auf der Suche nach einer Marktlücke waren, um dickes Geld zu verdienen.

Borchardt: Und mit unserem Publikum sind wir sehr glücklich. Es sind Leute, die ohne großes Gehabe diesen Laden als ihre Kneipe im Kiez ansehen und völlig unprätentiös ihr Bier trinken.

Auch wenn wahrscheinlich jede andere neue Kneipe den Nordneukölln-Boom ausgelöst hätte - Sie waren de facto die Ersten. Macht Sie das nicht auch stolz, was Sie angestoßen haben?

Merkle: Im Gegenteil: Ich bin manchmal richtig wütend. Als wir das Freie Neukölln aufgemacht haben, wollten wir auf keinen Fall, dass dieses Viertel zum neuen Szeneviertel wird. Wir haben auch nicht geglaubt, dass das passieren würde.

Sind Sie wütend wegen der Konkurrenz?

Merkle: Nein, denn dass Nordneukölln zum Ausgehviertel geworden ist, steigert auch unseren Umsatz. Ich bin wütend, weil es eben so zweischneidig ist: Wir profitieren von dem Boom, aber an sich verachten wir genau diese Mechanismen. Ich erinnere mich noch mit Schaudern, wie nach den ersten Monaten aufgetakelte Leute hier am Tresen saßen und uns nach dem "Potential" der Gegend aushorchten. Das zeigt doch nur, wie unkreativ Kapitalismus ist. Alle wollen immer bloß auf den fahrenden Zug aufspringen. Diese Nachmacher bringen einen Geist herein, den ich nicht mag.

Sie waren kreativ, und zwar im Sinne des Kapitalismus.

Merkle: Das ist ja das Dilemma. Ich würde diese Kneipe lieber in einem nichtkapitalistischen System betreiben.

Das Freie Neukölln feiert in diesen Tagen seinen zweiten Geburtstag. Wäre es nicht ein guter Zeitpunkt aufzuhören?

Merkle: Ein berechtigter Einwand. Aber im Moment will ich diesen Laden nicht aufgeben. Es würde bloß ein Idiot kommen, der die Bierpreise hochschrauben und weiter an dieser Veredelungsspirale drehen würde. Immerhin halten wir die Bierpreise niedrig und sorgen dafür, dass viele Mitte-Gastronomen keine Chance haben, hier ihre Fünf-Euro-Biere anzubieten. Zugleich finanzieren wir über diesen Kneipenbetrieb auch unsere Film-Projekte. Das sind tatsächlich unabhängige Autorenfilme einerseits und der Sender Freies Neukölln andererseits, ein monatliches Filmprogramm im Internet. Unseren inhaltlichen Beitrag bringen wir schließlich dort unter und meinen es mit den kapitalismus- und religionskritischen Frivolitäten total ernst.

Vor zwei Jahren wirkte das Viertel rund um die Friedel- oder Weserstraße noch recht trostlos. Freuen Sie sich, wenn wieder ein neues Café oder eine neue Boutique in Nordneukölln aufgemacht hat?

Borchardt: Bei manchen Läden ärgere ich mich. Aber insgesamt haben Sie Recht: Ich freue mich, dass das ganze Leben von Nordneukölln nun nach außen hin sichtbar wird. Ich würde mir was in die Tasche lügen, wenn ich behaupten würde: Neukölln soll immer so trostlos bleiben, wie es war.

Merkle: Noch ist auch kein Schuster verdrängt worden, weil eine neue In-Kneipe mehr Miete bezahlt. Bisher wurde nur Leerstand gefüllt.

Stadtsoziologen würden Sie dennoch als den Prototypen der ersten Stufe eines Gentrifizierungsprozesses ansehen.

Borchardt: Völlig von der Hand zu weisen ist dieser Vorwurf ja auch nicht.

Dabei müssten Sie doch Erfahrung haben mit Gentrifizierung. Sie beide gehören zu den Mitbegründern und Betreibern des ehemals besetzten Schoko-Ladens, eines Kulturprojekts der Nachwendezeit in Mitte. Inzwischen ist die gesamte Ecke luxussaniert. Ähnliches könnte nun auf Neukölln zukommen. Fühlen Sie sich nicht benutzt?

Merkle: Es gibt einen Unterschied zwischen Veränderung und Veredelung. Einen solchen Laden, wie wir ihn betreiben, kann Neukölln aushalten, ohne dass die Alteingesessenen gleich vertrieben werden.

Was macht Sie sicher, dass Neukölln nicht doch eine ähnliche Entwicklung durchmacht wie Mitte oder Prenzlauer Berg?

Borchardt: Mitte und Prenzlauer Berg waren schon anders, weil es nach der Wende ein völlig freies Feld war. Überall gab es unbesetzten Raum, der zunächst flächendeckig von der Szene besetzt werden konnte, anschließend aber auch von den Schickimickis und vom Hauptstadt-Werden. In Neukölln stoßen wir auf bestehende Strukturen. Die Leute ziehen nicht so leicht weg. Vor allem die Migranten sind gut vernetzt.

Merkle: Das darf man auch nicht außer Acht lassen: Nordneukölln wird ja momentan nicht nur durch die junge Szene neu belebt, sondern auch von arabischen Geschäftsleuten, die auf der Sonnenallee ein Café nach dem anderen eröffnen. Und die achten darauf, dass ihr Kiez sich auch in ihrem Sinne entwickelt.

Kommen auch Neuköllner mit türkischer oder arabischer Abstammung in Ihre Kneipe?

Merkle: Zum Zigarettengeldwechseln ja, sonst nicht.

Fänden Sie es wünschenswert, wenn sich bei Ihnen auch türkische Jugendgangs treffen würden?

Merkle: Nein, und da machen wir uns auch keine Illusionen. So schön Multikultiträume sind - ich bin schon ganz zufrieden, wenn es ein respektvolles Nebeneinander gibt. Mit dem arabischen Döner-Laden haben wir ein nachbarschaftliches Verhältnis, aber viel zu sagen haben wir uns nicht. Diese kulturellen Unterschiede, die es ja gibt, kann man auch nicht einfach übertünchen.

Wie sieht es mit Neuköllnern aus, die normalerweise zu der Eckkneipe gegenüber, dem Tell-Stübchen, gehen würden? Sind Sie ein Grund dafür, dass die alten Eckkneipen aussterben?

Merkle: Sie sterben aus, weil ihr Publikum ausstirbt.

Borchardt: Ab und zu schaut einer der Alten vorbei. Aber meistens ist ihnen die Musik zu laut, ihnen fehlen die Gardinen, sie finden es ungemütlich und das Bier ist ihnen zu teuer.

Aha. Ihr Bier ist also doch teurer?

Borchardt: Zumindest teurer als die Plörre in den alten Eckkneipen. Wir verkaufen vor allem bayerisches Bier, das lecker ist, aber auch teurer als Kindl.

Interessant. Sie ziehen aus dem wohl behüteten Westdeutschland in Berlins Armenkiez, auf Ihr hochqualitatives Bier aus der Heimat möchten Sie aber nicht verzichten.

Merkle: Erstens kommen wir nicht aus Bayern, und zweitens ist unsere Heimat, nachdem wir mehr als die Hälfte unseres Lebens hier verbracht haben, Berlin.

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