Kolumne Parallelgesellschaft: Allein schon die Brille!

Für viele gehört Thorsten Schäfer-Gümbel kastriert - dabei ist er nicht anders als andere Politiker: ästhetische Hilflosigkeit gepaart mit dem Charme eines Bausparvertrags.

Mit dem Satz, dass die Polkappen der Geschlechterhierarchie schmölzen, schloss die Frankfurter Psychoanalytikerin Ilka Quindeau ihr jüngstes Buch. Und sagen wollte sie damit: Geschlechter sind ohnehin konstruiert, das könne man im Alltag doch gut beobachten. Und wenn wir schon in Hessen sind, ist dort das feinste Exempel dieser These im offenen Klinikversuch zu studieren: Thorsten Schäfer-Gümbel wird einfach nicht ernst genommen, Mann her, Männlichkeit hin.

Im Grunde sei er eine Marionette der bösen Ypsi - und so sehr er auch das Gegenteil beteuert, wird ihm diese Bekundung zu seinen Lasten ausgelegt: Muss er das nicht sagen, um sich nicht vollends der durch seine Beobachter fantasierten Kastrationsdrohung auszuliefern?

Tja, dieser Mann ist ein gutes Symbol für die tauenden Enden der Geschlechterdifferenz, weil man Frauen einst nur als Variablen zu den männlichen Konstanten nahm. Momentan ist Schäfer-Gümbel quasi Gedöns, und so wie man früher an karrierewilligen Frauen unentwegt herummäkelte, wird nun am hessischen Antipoden zu Roland Koch gezerrt. Allein schon die Brille! Neuerdings trägt er ja nicht mehr dieses Modell, das die modische Welt (Stern, FAZ, SZ und all that jazz!) unserer Mittelschichten für unziemlich erklärte - das könnte ein Fehler sein. Der Modellwechsel signalisiert: Ich unterwerfe mich Stilberatern. Ganz schlecht!

In dieser Verachtung eines Mannes, der, weil er faktisch eine Chefin hat, für fehlerhaft gehalten wird, liegt zugleich auch eine Chance. Schäfer-Gümbel jedenfalls kann offenbar nicht ohne die als Domina fantasierte Ypsilanti beurteilt werden. So entgeht den Juroren über ihn, dass dieser Politiker so aussieht wie die allermeisten. Und auch so ist. Das Leben halbwegs - familiär, beruflich - im Griff, ästhetisch jedoch stets eine gewisse Hilflosigkeit verratend, die Brille, die Farbe der Hemden, der Haarschnitt … und überhaupt das Gesicht. Ein Casting für eine Teenagersoap hätte er nie überlebt.

TSG - was für ein Kürzel! - ist einer, den das Publikum - das freilich keine Mittelschichtsmedien liest - mag. Weil er, unabhängig vom Inhalt, lebt, was alle leben und wie alle es leben könnten. Der ölt nicht rum, der macht nicht einen auf Feinstgeschmack und Kulturdistinktion, der hat keine Visionen, der schwurbelt nicht rot-rot-grün, sondern sozialdemokratisch, also nicht christkonservativ. Und wahrscheinlich kann er die Festspiele von Salzburg nicht von denen der Tage der Neuen Musik in Donaueschingen unterscheiden. Der sieht aus wie Reihenhaus, Bausparvertrag und Pauschalreise, nicht wie Donna-Leon-hafter Venedigkitsch oder anderes Hochnasengetue, etwa die Wertschätzung von Filmvorführungen ohne Synchronisation, aber mit Untertiteln.

Und das ist doch sympathisch. Vor allem in Differenz zur offiziösen Welt aus Film, Funk und Fernsehen: Schäfer-Gümbel hat etwas vom Elternbeiratsvorsitzenden, der auch Brote für seine Gören schmieren oder denen im Grippefall einen Wadenwickel legen kann. Sogenannte graue Mäuse sind von den Medien gern kleingetextet worden. Merkel etwa. TSG hält man wie diese für eine Bagatelle. Man will ihm nicht verzeihen, dass er die Hexe Ypsi nicht weggekegelt hat; man hält ihn für naiv und doof und uncool. So wie man einst Frauen verniedlichte.

Was der Trumpf dieses Spitzenkandidaten ist, bleibt auch der von Roland Koch - eine gewisse Makelhaftigkeit aus der Perspektive von Fotomodell-Agenturen goutiert das Publikum sehr. So buchstabiert sich die Furcht der Kochs: dass da einer aus der lichtschluckenden Welt der Bausparer kommt, auf Recht und Ordnung hält, der ästhetisch eher vage Wünsche hegt, doch irgendwie Geschlechterdemokratie für normal erachtet und sich für sich selbst nicht schämt. Man wird sehen.

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Einst: Postbote, Möbelverkäufer, Versicherungskartensortierer, Verlagskaufmann in spe, Zeitungsausträger, Autor und Säzzer verschiedener linker Medien, etwa "Arbeiterkampf" und "Moderne Zeiten", Volo bei der taz in Hamburg - seit 1996 in Berlin bei der taz, zunächst in der Meinungsredaktion, dann im Inlandsressort, schließlich Entwicklung und Aufbau des Wochenendmagazin taz mag von 1997 bis 2009. Seither Kurator des taz lab, des taz-Kongresses in Berlin,und des taz Talks, sonst mit Hingabe Autor und Interview besonders für die taz am Wochenende. Interessen: Vergangenheitspolitik seit 1945, Popularkulturen aller Arten, besonders des Eurovision Song Contest, politische Analyse zu LGBTI*-Fragen sowie zu Fragen der Mittelschichtskritik. RB Leipzig-Fan, aktuell auch noch Bayer-Leverkusen-affin. Und er ist seit 2011 mit dem in Hamburg lebenden Historiker Rainer Nicolaysen in einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft, seit 2018 mit ihm verheiratet. Lebensmotto: Da geht noch was!

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