Kolumne Das Schlagloch: Ein anderer Koffer unterm Bett

Die Islamophobie sollte Muslime nicht dazu verleiten, den Antisemitismus kleinzureden.

Sie kreuzten einander in den letzten Wochen gleich mehrmals den Weg: die Begriffe Islamophobie und Antisemitismus. Die Aufregung um den Ansatz eines Historikers wie Wolfgang Benz, nach Parallelen zwischen beiden zu suchen, habe ich nicht verstanden. Zu offensichtlich scheint doch, dass es solche geben muss: sowohl bei den Inhalten von Stereotypen als auch bei der Art, wie sie entstehen und weiterbestehen; auch bei der Funktion, die sie innerhalb der Mehrheitsgesellschaft übernehmen, wenn diese eine Minderheit als fremd stigmatisiert. Eine solche Ähnlichkeit liegt in der Tendenz zur Ethnisierung: Egal wie säkular oder "assimiliert" deutsche Juden lebten, sie wurden immer wieder zu "Anderen" gemacht. Ähnlich erleben wir heute, dass Menschen islamischer Herkunft, egal ob sie glauben oder nicht glauben, als Muslime bezeichnet werden. In beiden Fällen ist es nicht das jeweilige Individuum, sondern die Mehrheit, die die Zugehörigkeiten definiert.

Genauso selbstverständlich ist, dass Antisemitismus und Islamophobie in vielerlei Hinsicht grundverschieden sind. Zum einen war und bleibt das Perfide am deutschen (und europäischen) Antisemitismus der lange Atem, mit dem die christliche Mehrheit über Jahrhunderte ihre jüdischen Gemeinden nach Belieben ausgestoßen, eingebunden und dann wieder auf jede erdenkliche gesetzliche, soziale und physische Art diskriminiert hat. Das gipfelte schließlich im nationalsozialistischen Massenmord, dessen Unvergleichbarkeit nicht nur seinem schieren Umfang, sondern auch seiner Durchführung geschuldet ist; er entsetzt wegen des systematischen Erfassens und Vernichtens von Menschen, in das Wissenschaft, Justiz und Industrie einbezogen waren.

Nichts davon steht Muslimen in Deutschland bevor. Was die reale physische Bedrohung durch Neonazis angeht, geraten afrikanischstämmige Menschen viel häufiger in deren Visier. Ein systematischer Massenmord bedroht uns alle nicht - jeder hier lebende Muslim weiß das. Dennoch spreche ich diese an sich triviale Tatsache explizit aus, weil ich ebenso weiß, dass viele von uns mit einem - echten oder symbolischen - Koffer unterm Bett leben; nicht wenige gut ausgebildete Türkischstämmige sind ja bereits ins Land ihrer Eltern zurück gezogen. Von den nichtmuslimischen Deutschen unbemerkt und von den deutschen Muslimen in dieser Symbolik nicht intendiert, hat sich die Metapher des Koffers ein zweites Mal in die deutsche Geschichte eingeschlichen. Aber wovor man mit diesem Koffer zu fliehen gedenkt, ist etwas völlig anderes.

Die Unvergleichbarkeit des Holocaust hat zwei unterschiedliche Ebenen: die der historischen Tatsachen und die der moralischen Verpflichtungen. Die objektiven historischen Merkmale ziehen Fragen der Verantwortung, der (Mit-)Schuld und der Loyalität nach sich. Hier ist Deutschland der Gemeinschaft der Juden und dem Staat Israel zu besonderer Loyalität verpflichtet. Ich persönlich finde, selbst wo Israel eine teils menschenverachtende Politik betreibt, ist es nicht ausgerechnet an Deutschland, dies zu kritisieren. Es gibt genügend andere Staaten, die diese Aufgabe übernehmen können; wir Deutschen sollten froh sein, dass Israelis überhaupt deutsche Politiker auf ihrem Boden akzeptieren. Wir haben hier die Rolle von jemandem, der einen Mitmenschen bereits einmal aufs Übelste verraten hat. Dieser hat uns (soweit das möglich ist) verziehen; von nun an gilt es, egal was geschieht, zu ihm zu stehen.

Diese besondere Loyalität aber können wir nicht von jedem Bewohner anderer Erdteile erwarten - nicht einmal das historische Wissen um die Unvergleichbarkeit des Holocaust, wenn es sich um Menschen handelt, die in einem Schwellenland mit gerade mal vier Jahren Schulpflicht leben. Zwar werden in vielen arabischen Ländern uralte deutsche Hetzschriften verbreitet und gelesen, und manche Fanatiker geben sich Ausrottungsfantasien hin. Und doch ist der arabische Antisemitismus historisch und politisch ganz anders gelagert als der deutsche - gerade weil der Holocaust ein im schlimmsten Sinne einzigartiges Verbrechen und Kulminationspunkt einer bestimmten, deutschen (und europäischen) Geschichte ist.

Ich habe "wir" gesagt. Aber das berührt natürlich eine heikle Frage, die zugespitzt lautet: Wir Muslime in Deutschland - verstehen wir uns in dieser Angelegenheit eher als Deutsche oder als Muslime? Gilt für uns die ganz besondere Verpflichtung Deutschlands? Oder empfinden wir als Muslime mit den Palästinensern dafür zu starke Solidarität? Meiner persönlichen Meinung nach sollten wir uns in dieser Frage "als Deutsche" fühlen. Doch auch und gerade denjenigen deutschen Muslimen, die ihre Loyalitäten vielleicht anders empfinden, möchte ich dreierlei zu bedenken geben.

Zunächst einmal ist es schlicht nicht wahr, dass die ganze muslimische "Umma" hinter den Palästinensern steht. Oft genug haben arabische Staaten ihre Grenzen geschlossen oder die Palästinenser zum Spielball ihrer eigenen Interessen gemacht. Bereits die Annahme, es gebe eine Art natürlicher Solidarität aller Muslime mit den Palästinensern, heißt, die Sache zu simpel zu sehen.

Zweitens sollten uns die jüngsten Terrorakte in Indien eine Mahnung sein. Eins der Ziele war ein jüdisches Gemeindezentrum, und es war eine explizite Absicht der Terroristen, besonders gnadenlos gegen Juden zu sein. Offenbar hat jeder muslimische Verbrecher in Ost und West den Eindruck, seine Taten gingen schon in Ordnung, wenn er nur behauptet, dass er es "für Palästina" tue. Er appelliert damit an unsere muslimische Solidarität, und diese müssen wir ihm verweigern. Jüdische Kinder und Erwachsene, Rabbis oder auch Soldaten in Indien zu töten, ist Mord - egal, welches Fähnchen man darüber hisst.

Drittens haben wir deutschen Muslime zwar oft das Gefühl, die Gefahr der Islamophobie werde nicht ernst genug genommen. Daraus dürfen wir aber nicht folgern, umgekehrt sei das Gedenken an den Holocaust übertrieben und verdanke sich einer Art jüdischer Überempfindlichkeit. Ich habe Sätze wie den folgenden aus deutschtürkischem Munde leider schon zu oft gehört: "(Die Israelis tun mit den Palästinensern dasselbe), aber das darf man ja nicht sagen." Erstens ist das nicht vergleichbar - und zweitens handelt es sich nicht um das unsinnige Verbot zum Beispiel einer Tante, die dem Kind ein Bonbon missgönnt. Was also soll dieses Schmollen hinter vorgehaltener Hand?

Wenn man die Politik Israels von Deutschland aus unbedingt kritisieren will, dann soll man es offen tun und dazu stehen. Die Floskeln "Tabu", "Tabubruch" und "man darf das ja nicht sagen" stammen aus dem Wortschatz der Revisionisten, und da sollten wir sie auch belassen. Auch Ausländerfeinde verwenden schließlich solche "politisch inkorrekten" Wendungen, wenn sie gegen Muslime hetzen. Doch nicht nur das, sondern vor allem unser allgemeines politisches Bewusstsein und Gewissen sollte für uns der Grund sein, davon Abstand zu nehmen.

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Hilal Sezgin studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Zuletzt von ihr in Buchform: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs.“ DuMont Buchverlag 2017.

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