Kommentar US-Häftlinge nach Deutschland: Nüchterner Blick auf Guantánamo

Deutschland hat die moralische Verpflichtung, Häftlinge aus dem US- Gefangenenlager aufzunehmen. Zu sentimentaler Verklärung besteht allerdings kein Anlass.

Ein sentimentaler Ton hat sich in die Diskussion über die mögliche Aufnahme von Insassen des US-Gefangenenlagers Guantánamo in Deutschland eingeschlichen. Zahlreiche Äußerungen erwecken den Eindruck, es handele sich bei den Häftlingen sämtlich um Unschuldige, die ohne eigenes Zutun in die Mühlen eines feindseligen Apparats geraten seien. Davon kann keine Rede sein. Und darum geht es auch gar nicht.

Gegen einige der Gefangenen sollen schwer wiegende Indizien vorliegen, denen zufolge sie an Verbrechen beteiligt waren. Das Pentagon gibt darüber hinaus an, dass 61 ehemalige Guantánamo-Häftlinge nach ihrer Freilassung terroristisch aktiv geworden seien. In 18 Fällen lägen entsprechende Beweise vor, sagte ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums. In 43 weiteren Fällen deuteten Geheimdienstinformationen darauf hin.

Man macht es sich zu leicht, wenn man derlei Beschuldigungen als bloße Schutzbehauptungen von Leuten abtut, die Menschenrechtsverletzungen geduldet oder sogar selbst begangen haben. Manchmal finden sogar Geheimdienste etwas heraus. Es gibt sehr gute Gründe dafür, dass Geständnisse, die unter Folter abgepresst wurden, in Rechtsstaaten vor Gericht nicht verwendet werden dürfen. Was jemand unter Schmerzen herausschreit, muss nicht wahr sein. Aber der Umkehrschluss ist ebenfalls nicht zulässig: Gefoltert worden zu sein ist noch kein Unschuldsbeweis.

Es ist außerdem durchaus vorstellbar, dass bislang Unschuldige infolge des in Guantánamo erlittenen Unrechts nun Rachegedanken gegen die USA und deren Verbündete hegen und demnächst zu Schuldigen werden, also Gewalttaten verüben. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ist diese Überlegung jedoch nur eines: bedeutungslos. In einem Rechtsstaat gibt es nun mal nur zweierlei: Unschuld oder juristisch eindeutig nachgewiesene Schuld.

Knapp 10 Prozent der 245 Häftlinge, die gegenwärtig noch in Guantánamo einsitzen, stellen die Behörden offenbar vor große Probleme. Sie gelten als hochgefährlich, sollen also nicht freigelassen werden. Rechtskräftig verurteilt werden können sie aber auch nicht - sei es, weil ihre Geständnisse durch Folter erpresst worden sind, sei es, weil in einem Prozess geheime Informationen enthüllt werden müssten.

Das ist Pech. Wer derlei vermeiden will, der darf eben nicht foltern oder sich auf Quellen stützen, die nicht benutzt werden können. Das hört sich einfacher an, als es ist? Nein. Um mit Erich Kästner zu sprechen: Das ist einfacher, als es sich anhört.

Wenn einem gerichtsbekannten Jugendlichen nicht nachgewiesen werden kann, dass er derjenige war, der einer alten Dame die Handtasche entriss, dann muss er freigelassen werden. Dasselbe gilt analog für jemanden, dem unterstellt wird, einer terroristischen Organisation anzugehören. Das Gebot der Unschuldsvermutung ist universal. Wie jedes andere Menschenrecht auch.

Niemand muss die eigene Unschuld beweisen. Schuld ist es, die nachgewiesen werden muss. Rechtsstaat bedeutet deshalb stets: Manche Taten bleiben ungesühnt. Rechtsstaat bedeutet auch: Seine Bevölkerung muss mit einem Sicherheitsrisiko leben.

Eine Gesellschaft, die sich dafür entschieden hat, die Menschenwürde für unantastbar zu erklären, erklärt sich damit zugleich dazu bereit, den Preis dafür zu bezahlen. Er kann darin bestehen, dass Opfer von Gewalttaten zu beklagen sind, die in einem Überwachungsstaat nicht gestorben wären. Das ist ein hoher Preis. Der Lohn für diese Entscheidung ist allerdings ebenfalls hoch. Er besteht in individueller Rechtssicherheit.

Es ist verlogen, wenn der SPD-Abgeordnete Sebastian Edathy nun erklärt, man müsse "tatsächlich objektiv unschuldigen" Personen ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in einem EU-Mitgliedstaat eröffnen. Oder wenn der Grünen-Politiker Jürgen Trittin sagt, die Schließung von Guantánamo dürfe sich nicht dadurch verzögern, "dass kein Land bereit ist, die vom US-Militär als unschuldig eingestuften Gefangenen aufzunehmen". Oder wenn die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger die Bundesregierung auffordert, sich einer "Einzelfallprüfung" zu öffnen. Oder wenn die Linkspartei eine humanitäre Geste durch die Aufnahme "unschuldiger Häftlinge" verlangt.

All diese Stellungnahmen gehen am harten Kern des Problems vorbei. Niemand hat etwas dagegen, verfolgter Unschuld zu helfen. Die zentrale Frage aber lautet: Was geschieht mit den Guantánamo-Häftlingen, die nicht zweifelsfrei unschuldig sind und weder in den USA bleiben sollen noch in ihre Heimatländer zurückkehren können?

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble sagt, er kenne keinen Grund, warum jemand von einem EU-Staat aufgenommen werden solle, der "zu gefährlich für Amerika" sei. Der CDU-Politiker behauptet, die "Verantwortung für diejenigen, die jahrelang in Guantánamo festgehalten wurden", liege bei den Vereinigten Staaten von Amerika.

Anders ausgedrückt: Was geht uns das alles an? Viel geht uns das an. Die Bundesrepublik hat den USA alle gewünschten Überflug- und Landerechte gewährt - auch im Rahmen des sogenannten Kampfes gegen den Terrorismus. Es gibt Hinweise darauf, dass Gefangene der Vereinigten Staaten auf dem Weg über Deutschland zu ihrem Bestimmungsort verbracht wurden. Der SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier hat offenbar persönlich daran mitgewirkt, dass der gebürtige Bremer Murat Kurnaz länger in Guantánamo inhaftiert blieb, als die USA das wünschten. Ja, Guantánamo geht uns sehr viel an.

Wahr ist: Es gibt für die Bundesrepublik keinen juristisch gebotenen Zwang, Häftlinge aufzunehmen. Aber es gibt eine politisch-moralische Verpflichtung, die sich aus dem transatlantischen Bündnis ergibt. Unter Hinweis auf Bündnispflichten haben wir bekanntlich schon ganz andere Dinge getan. Beispielsweise deutsche Fregatten als Geleitschutz für US-Kriegsschiffe vor und während des Irakkrieges losgeschickt, an dem wir uns - angeblich - nicht beteiligten. Ohne dass der Bundestag dem vorab zugestimmt oder nachträglich dagegen protestiert hätte. Angeblich deshalb, weil das transatlantische Bündnis so eng ist.

Wenn das stimmt, dann können und dürfen wir uns nicht ausgerechnet dann vor den Folgen dieses engen Bündnisses drücken, wenn es um die Wahrung von Menschenrechten geht. Die Verklärung von Guantánamo-Häftlingen hilft allerdings niemandem. Denn wenn es tatsächlich einmal zu einem Anschlag unter Beteiligung ehemaliger Gefangener kommen sollte, dann wird die gegenwärtig überaus hohe Zustimmungsrate für Barack Obama ohnehin dramatisch abstürzen. Dazu sollten jedoch nicht ausgerechnet diejenigen einen Beitrag leisten, die jahrelang und zu Recht gegen Menschrechtsverletzungen und Willkür protestiert haben.

BETTINA GAUS

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Jahrgang 1956, ist politische Korrespondentin der taz. Von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung, vorher war sie sechs Jahre lang deren Korrespondentin für Ost-und Zentralafrika mit Sitz in Nairobi. Bettina Gaus hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt 2011 „Der unterschätzte Kontinent – Reise zur Mittelschicht Afrikas“ (Eichborn).

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