Kolumne Klatsch: Lichtlein am Berg

Fast hätte ich mit Attila beim Sternekoch gegessen. Doch dann kam alles anders.

Das Lichtlein von der anderen Talseite ließ mich nicht mehr los. Es war ein schwaches Licht, kaum zu erkennen, das da jede Nacht mitten am steilen Berghang leuchtete. Man sah es schimmern von Gasenried aus in etwa zweitausend Meter Höhe. Darüber nur noch Felswände, Schnee und Eis bis hinauf zum Weisshorn, einem der Viertausender. Wallis, oh du mei Lahf. Tagsüber suchte ich mit dem Fernglas nach Spuren.

Eine einsame, kleine Holzhütte konnte ich sehen, auf einem Felsvorsprung gelegen. Kein Weg, schon gar keine Straße, keine Stromleitung führten dorthin. Und trotzdem: jede Nacht dieses Lichtlein. Wer tut sich so etwas an? Wer lebt dort oben versteckt vor der Welt? Ich stellte mir einen Londoner Investmentbanker von Lehman Brothers vor, der, vor seinen Kunden geflohen, jetzt zum ersten Mal in seinem Leben glücklich ist. Er genießt das Holzfeuer in der winzigen Stube, wälzt sich tagsüber nackt im Schnee und kaut am Abend alten Ziegenkäse und Kümmelbrot. Und will nie wieder dahin zurück, wo er herkommt.

Doch bevor ich hinaufsteigen und ihm alles Gute für sein weiteres Leben wünschen konnte, musste ich schon wieder abreisen. Attila wartete. Wir hatten uns am Aschermittwoch zum Abendessen bei Vincent Klink im Restaurant "Wielandshöhe" in Stuttgart verabredet. Ich hatte es ihm seit langem versprochen. "Einmal richtig gut essen", hatte Attila mir gesagt, das wäre ein großer Wunsch von ihm. Und einen Wunsch war ich ihm seit langem schuldig.

Attila, der eigentlich Claus Parge heißt, war einmal in Stuttgart das, was "Neger-Kalle" in Hamburg oder "Aki" Jakoby in Frankfurt, also "Rotlichtkönige", die nicht wirklich adelig, aber doch in ihrer Gesellschaft respektiert und geachtet waren. In sechster Ehe ist Attila mit Kerstin verheiratet, auch sie Boxerin wie er und tätowiert an den richtigen Stellen. "Die kann ich im Stehen vögeln, so lange Beine hat sie", hatte er mir Kerstin in seiner Kneipe, dem "Lucky Punch", eines Tages vorgestellt und sie hatte ihr Gesicht verzogen und gesagt: "Hör doch auf, diesen Scheiß zu erzählen." Im "Lucky Punch" geht es geradeheraus zu, jeder sagt das, was er auch wirklich denkt. Hamburger Freunde versicherten mir, so eine Kneipe gebe es auf dem ganzen Kiez nicht mehr. Stuttgart, mei Lahf.

Vincent Klink freute sich auf den Gast und hatte einen besonders schönen Tisch mit Aussicht am Fenster reserviert. Der Sternekoch hat ein Faible für ehrliche Produkte und Attila ist ein ehrliches Produkt. Die "Wielandshöhe" liegt hoch über dem Stadtkessel, das "Lucky Punch" liegt mittendrin. Beide Männer wiegen ungefähr 110 Kilo, und wenngleich auch der eine in der Höhenlage residiert und der andere in den Niederungen der Stadt sein illustres Publikum empfängt, so schlägt doch unter den Westen der ungleichen Wirte ein reines Herz.

Ich dachte während der Rückfahrt vom Wallis nach Stuttgart an Linsensuppe mit Albschnecken und an gerösteten Rochenflügel. Nur noch vier Stunden, und ich würde mit Attila und seine Frau Kerstin in der "Wielandshöhe" sitzen und sie ein wenig bei der Auswahl der Speisen und der Weine beraten. Da klingelte mein Handy.

Es war jene Freundin, die ich für den Abend dazugeladen hatte, um auch als Paar zu erscheinen. Sie hatte gerade mit Attila telefoniert und seine Stimme habe seltsam belegt geklungen. Absagen müsse er, es täte ihm schrecklich leid. Er rief aus dem Krankenhaus an, hatte sich mit seiner Frau geprügelt, und es war ihm anscheinend nicht gut bekommen. Jetzt mache er eine freiwillige Entziehungskur in der Klinik, das Abendessen werde nachgeholt. Später, in ein paar Wochen, vielleicht. Sagte er.

Mir fiel der Berg wieder ein und das kleine Lichtlein. Schon einmal hatte ich Attila besucht, als es ihm nicht gut ging. Damals war er Häftling in Gefängnis von Stammheim, eine dumme Geschichte. Ich hatte ihm Schokolade mitgebracht und wir versicherten uns, dass wir uns lieb hatten. Man muss nur genau hinschauen, dann sieht man überall Lichtlein leuchten.

Ein Lichtlein gesehen? kolumne@taz.de Morgen: Martin Unfried huldigt dem ÖKOSEX

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Journalist, Mitbegründer der Zeitenspiegel-Reportageschule, hält Brandenburg für die neue Toskana.

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