Auf Youtube gecastetes Orchester: Erst Wohnzimmer, nun Carnegie Hall
Am Mittwoch feiert das erste Online-Sinfonie-Orchester in New York Premiere – gefunden wurden die Musiker über ein Casting-Projekt auf der Videoplattform Youtube.
Die Mitglieder des weltweit ersten Online-Orchesters sind gefunden und bereiten sich jetzt auf ihre Weltpremiere in der New Yorker Carnegie Hall vor. Gewählt wurden sie von den Usern der Videoplattform Youtube. Eine klassische Demokratie sozusagen. Eine musikalische Notwendigkeit, behauptet Komponisten Tan Dun, dessen Sinfonie das Orchester unter Anderem spielen wird: "Es ist ganz wichtig eine Sinfoniekultur zu pflegen, die einen Bezug zur heutigen Straßenkultur hat, denn es stecken so viele unsichtbare Beethovens hinter Youtube", sagt Tan Dun - natürlich - in einem Video auf Youtube.
Einer der angeblich unsichtbaren Beethovens heißt Pierre, aus Frankreich, Cellist. In seinem Video sitzt er am Ufer der Seine. Oder Titus aus Rumänien, der eine Videokamera in seinem Wohnzimmer aufgestellt hat und seinen Sohn mit Trompete filmt. Oder auch Maurice Maurer, Musikschullehrer aus Castrop-Rauxel, 29 Jahre alt, spielt seit seinem fünften Lebensjahr Geige und hat sich für sein Video in einem Zimmer der Musikschule eingeschlossen, in der er unterrichtet.
Über 90 mal geht das so. 90 mal Slideshows, Webcams, Wohnzimmer. Irina, Nina, Andy. Bratschen, Waldhörner, Querflöten. Kanada, Portugal, Kanadische Inseln. Über 90 Musiker aus über 30 verschiedenen Ländern spielen in dem Online-Orchester. Jetzt werden sie sich erstmals auch im echten Leben begegnen: Über Ostern fliegen sie nach New York, um dort ab Montag für die Weltpremiere des Orchesters in der New Yorker Carnegie-Hall zu proben, die am Mittwoch stattfinden wird. Dort wird unter Anderem auch eine Montage aus den Videos von Tan Duns Internet-Sinfonie Nr. 1 „Eroica“ gezeigt werden, die die Musiker als Bewerbung auf die Videoplattform hochladen mussten.
Klassische Musik und ein Youtube-Casting – zwei Dinge, die auf den ersten Blick gar nicht, und auf den zweiten Blick sehr gut zusammen passen. und darum passt das Projekt auch zu dem chinesischen Komponisten Tan Dun. Denn es ist ja fast ein bisschen so, als habe es sich Tan Dun zum Lebensprinzip gemacht, Dinge zusammen zu bringen, die auf den ersten Blick nicht zusammen passen. Die östliche und die westliche Musik zum Beispiel. Oder Tradition und Moderne.
Tan Dun, 1957 in der chinesischen Provinz Hunan geboren, lernt als Kind erst auf der zweisaitigen Kniefidel und der Bambusquerflöte zu spielen, und lauscht den Musikern seines Dorfes, die bei Beerdigungen für die Verstorbenen aufspielen. Dann eines Tages hört er das erste Mal westliche Musik. Es ist das Jahr 1973, Tan Dun baut gerade Reis an und hört dabei Radio. Nixon hatte kurz zuvor in Peking Mao die Hand geschüttelt und das Philadelphia Orchestra ist damals seit mehreren Jahrzehnten das erste westliche Orchester, das in China auftreten darf. Tan Dun steht neben dem Radio und ist erst erschrocken, dann begeistert. Jahre später, Tan Dun ist mittlerweile nach New York gezogen, hat dort studiert und promoviert, wird er berühmt als notorischer Grenzüberschreiter zwischen der Musik aus Ost und West.
Er mischt westliche Klassik mit chinesischer Oper, verfremdet Geigen, indem er sie tiefer stimmt und lässt sich von Baulärm ebenso inspirieren wie von Bartok. Im Jahr 2000 gewinnt er für seine Musik zu Ang Lees Martial-Arts-Film „Crouching Tiger, Hidden Dragon“ den Oscar. Weltruhm zum Ersten. 2008 schreibt er dann die Musik für die Olympischen Spiele in Peking, Weltruhm zum Zweiten. Eine dieser Sinfonien klingt übrigens verdächtig nach seiner Internet-Sinfonie Nr. 1 „Eroica“, die er laut Youtube -Werbung eigens für das Online-Orchester geschrieben haben will. Davon können sich auch alle überzeugen, die nicht bei der Premiere am Mittwoch dabei sein können: Ein Video dieser Sinfonie wird es natürlich auch auf Youtube zu sehen geben. Denn jede Community bekommt eben das Orchester, das sie sich gewählt hat.
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