Demjanjuk-Auslieferung: Kapitel noch nicht abgeschlossen

Die juristische Aufarbeitung der NS-Diktatur ist gründlich gescheitert. Daran ändert auch der Fall des mutmaßlichen Kriegsverbrechers Demjanjuk nichts.

Der Demjanjuk-Prozess könnte auch Auswirkung auf andere noch lebende NS-Täter haben. Bild: ap

Kommt er oder kommt er nicht? Mehr als 30 Jahre hat John Iwan Demjanjuk die Gerichte beschäftigt und lange Zeit drohte der Streit um ihn an formalen Zuständigkeiten zu scheitern. Das juristische Tauziehen um seine Auslieferung ist nun beendet: Der mutmaßliche NS-Täter ist am Dienstag aus den USA nach Deutschland abgeschoben worden.

Endlich.

Denn auch 64 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen nicht abgeschlossen. Bis heute gehört die Behauptung, diese Aufarbeitung des Nationalsozialismus sei gelungen, zu einer der liebsten Legenden im Land der Schoah. Die fragwürdigen Urteile der deutschen Justiz können aber bei genauerem Hinsehen nicht bezweifelt werden - und die Legende fällt in sich zusammen. Der Historiker Norbert Frei bezeichnete die bisherige Rechtsprechung als ein "Desaster", und der baden-württembergische Justizminister Ulrich Groll (FDP) sprach von Urteilen, die in einer "geradezu skandalösen Weise versucht haben, nationalsozialistische Verbrecher, wenn nicht ganz freizusprechen oder außer Verfolgung zu setzen, so doch nur mit milden Strafen zu belegen". Zwar wurden in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen einige hochrangige Nazis verurteilt, aber seit dem Kriegsende ermittelte die deutsche Justiz in über 100.000 Fällen - lediglich 6500 Beschuldigte wurden verurteilt, davon 150 zu lebenslanger Haft. Die meisten Verfahren endeten mit teilweise fragwürdigen Verfahrenseinstellungen und Freisprüchen.

Mit einem der ersten Gesetze ermöglichte der Bundestag 1949 bereits die Straffreiheit von NS-Tätern bei "minderschweren Fällen". Eine Serie von Entscheidungen sorgte in den 50er-Jahren für die weitere Nichtverfolgung der Täter. 1960 verjährte Totschlag und 1968 verjährten alle Beihilfeverbrechen, ohne dass die Politik eingriff. Im Zuge dieser Gesetze verwandelten sich Tötungsdelikte von Nationalsozialisten in eine Straftat, die von oben befohlen wurde ohne eigene Verantwortung. Der Historiker Frei konnte nachweisen, dass wegen dieser Amnestiegesetze 44 Totschlagsdelikte von NS-Tätern straffrei blieben. Eine Neufassung des Ordnungswidrigkeitsgesetzes 1968 setzte noch mehr Schranken: War es bisher lediglich möglich, Gehilfen milder zu bestrafen, so mussten sie fortan eine geringere Strafe erhalten. Erst 1979 verhinderte der Bundestag - im dritten Anlauf -, dass Mord verjährt.

Zwei Beispiele, deren Milde für viele andere Verfahren stehen: Der SS-Sturmbannführer Otto Bradfisch, unter dessen Leitung 15.000 Juden ermordet wurden, wurde 1961 in einem umstrittenen Urteil zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach Meinung des Münchener Richters habe ihm zur Täterschaft der "Täterwille" gefehlt - Bradfisch habe nur den Befehlen einer verbrecherischen Staatsführung gehorcht. 2002 verurteilte das Landgericht Hamburg den 93-jährigen Friedrich Engel wegen der Anordnung zur Ermordung von 59 italienischen Geiseln im Mai 1944 zu einer siebenjährigen Haftstrafe.

Der Fall Demjanjuk könnte einer der letzten Prozesse gegen einen mutmaßlichen NS-Verbrecher sein: Glaubt man den Zeugenaussagen, dann war der 89-jährige Ukrainer ein besonders grausamer Verbrecher. Als SS-Wachmann im Vernichtungslager Sobibor soll er an der Ermordung von 29.000 Juden beteiligt gewesen sein.

Im Fall Demjanjuk greift eine Ausnahme im deutschen Gesetz. Denn eigentlich ist die hiesige Justiz nur zuständig, wenn der Täter ein Deutscher ist oder die Straftat auf deutschem Boden verübt wurde. Weil aber eine große Anzahl der Opfer aus Deutschland kamen und Demjanjuk in deutschem Auftrag handelte, kann er nun belangt werden. Seine Verurteilung durch ein deutsches Gericht könnte weitreichende Folgen für die Verfolgung anderer NS-Straftäter haben: Noch ist etwas Zeit geblieben, um die wenigen überlebenden Täter anklagen zu können, bevor sie sterben oder verhandlungsunfähig werden. Denn das Kapitel der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechern ist bis heute nicht abgeschlossen.

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