Kolumne Landmänner: Anna und ich allein zu Haus

Ein Ausflug in eine fremde Welt: Als Supernanny in Brandenburg.

Erst ging Mama und die Prinzessin weinte bitterlich. Mama musste zur Arbeit. Dann ging mein Freund, und die Prinzessin weinte bitterlich. Mein Freund musste zu einer Behörde. Nun waren die Prinzessin und ich ganz allein im Haus. Und ich war kurz davor, bitterlich zu weinen - vor Angst.

Die Prinzessin heißt Anna und ist zweieinhalb Jahre alt. Und ich war noch nie ganz allein mit einem kleinen Kind, außer mit meinem Neffen auf dem Spielplatz in jener schwäbischen Vorortsiedlung, in der mein Bruder und seine Frau wohnen. Damals hatte ich dem kleinen Tim einfach "Mr Sandmann" vorgesungen, während ich schaukelte, denn mein Neffe saß ja noch völlig unbedrohlich festgezurrt in seinem Kinderwagen, da konnte mir nicht viel passieren.

Tim kann längst laufen - und die Prinzessin Anna ebenfalls. Das ist heftig. Sie können weglaufen, umfallen, runterfallen, ins Wasser fallen, an einen Gegenstand/Baum/Menschen rennen. Unser idyllisches Landhäuschen mit dem großen Garten, den schönen rauschenden Bäumen und den vielen Blumen erschien mir daher von einer Minute zur anderen wie ein bedrohlicher Dschungel, das Dörfchen wie ein Kriegsschauplatz. In der Luft kreisten riesige Raubvögel, jederzeit bereit, sich auf die kleine Prinzessin Anna zu stürzen, die mit ihren blonden Locken halbnackt durch den Garten flitzte. Unbarmherzig verbrennend strahlte die Sonne von oben auf ihre bleiche, zarte Haut.

Mit Hilfe eines Wassereimers gelang es mir zumindest, die Gefahr des Abschiedsschmerzes und die Bedrohung des sich Alleingelassenfühlens abzuwenden: Anna hatte nun ihren eigenen Pool - im Schatten! - und das Erfreuliche an Kindern dieses Alters ist ihre Ausdauer in Begeisterungsfähigkeit. Während ein Erwachsener zum Bungeejumping an die Niagarafälle reisen muss, um sich noch spüren zu können, war Anna mindestens eine halbe Stunde mit Glück erfüllt, weil ich sie immer wieder mit den kleinen Füßchen in den Wassereimer stellte und wieder heraushob.

Die nächste halbe Stunde verbrachten wir mit "Fliegen". Ein Segeltörn entlang dem Kirschbaum, im Tieflug über das Erdbeerfeld - inklusive Zwischenlandungen im Wassereimer. Es folgten Schmetterlingsbesichtigung, Kletterübungen auf den Gartenmöbeln, Ringelpietz-Tanzen zu dritt - mit dem rosa Teddybären in der Küche - und Wettlaufen entlang der Hausfront.

Ich war total erschöpft und sehnte mich nach jenem Mittagsschlaf, den man mir aufgetragen hatte, Anna ans Herz zu legen. Die aber offensichtlich ganz andere Interessen verfolgte. Ich hatte eigentlich keine Chance und versuchte sie mit Hilfe eines kleinen Mittagessens einzuschläfern - funktioniert bei mir auch immer. Die Tortellini segelten jedoch lautlos in Richtung Fenster, der Salat startete senkrecht wie ein Harrier-Jet in Richtung Decke und die Erdbeeren crashten wie ein Airbus auf den Sitzbezügen.

Völlig am Ende hing ich in den Seilen und wünschte mir Ursula von der Leyen als Supernanny zur Seite. Stattdessen stand die Prinzessin Anna plötzlich auf und ging in die Schlafkammer. Sie zog sich aus - und selbständig eine Windel an! Dann legte sie sich schlafen und schon nach einer halben Minute hörte man nur noch ein ganz leises rhythmisches Atmen. Sie hatte mich in Sicherheit gebracht.

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* 21. Februar 1973 in Wittlich; † 26. Mai 2023 in Berlin, war Redakteur der taz am Wochenende. Sein Schwerpunkt lag auf gesellschaftlichen und LGBTI-Themen. Er veröffentlichte mehrere Bücher im Fischer Taschenbuchverlag („Generation Umhängetasche“, „Landlust“ und „Vertragt Euch“). Zuletzt erschien von ihm "Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik" im Suhrkamp-Verlag (2018). Martin Reichert lebte mit seinem Lebensgefährten in Berlin-Neukölln - und so oft es ging in Slowenien

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