Kolumne Geschöpfe: Ameisenschelte

Es will einfach nichts passieren. Und wenn doch mal etwas passiert, dann nur "en miniature".

Neulich schlüpfe ich aus dem traumwarmen Bett, schlurfe verschlafen hinüber in die Küche, um uns einen frühen Kaffee zu kochen - und sehe mich dort plötzlich einem feindlichen Heer von schier unüberschaubaren Ausmaßen gegenüber. Schon Tage zuvor waren einzelne Kundschafterinnen durch die Wohnung geschlichen, verletzlich, betont unauffällig, als hätten sie sich nur verirrt. Es war die Vorhut. Dies ist die Invasion. Ich war so naiv.

Ursprünglich, noch in der großen Stadt, hatte ich mir ein spezielles Terrarium für Ameisen anschaffen wollen. Ein Formicarium, aus Plexiglas zum Reingucken, was der putzige Insektenstaat so treibt, wie's zugeht, was abgeht, solche Sachen. Gönnerhaft schmunzelnd der beschaulichen Ernte wogender Pilzfelder oder dem abendlichen Melken gutmütiger Läuse beiwohnen, so hatte ich mir das vorgestellt, ein Idyll biologischer Landwirtschaft und artgerechter Tierhaltung en miniature. Vielleicht hatte mir ja die Lektüre von Maurice Maeterlinck den Blick verklärt, dem angesichts der Viecherchen dermaßen humanistisch vorgeheizte Lobhudeleien aus der Feder flossen, dass er dafür 1911 sogar den Nobelpreis bekam: Die Ameise sei "unstreitig eines der edelsten, mutigsten, wohltätigsten, aufopferungsfähigsten, großherzigsten und uneigennützigsten Wesen, die unsere Erde trägt". Jetzt, auf dem Lande, kann ich ganz ohne Formicarium erleben, was dieses unstreitig edelste, mutigste, wohltätigste et cetera Wesen so treibt: das Schlaraffenland meiner Küche einnehmen wie weiland Xerxes' Heerscharen den Hellespont.

Ein ganzes verdammtes Volk, das, Ameise für Ameise zu einem wahrhaft napoleonischen Feldzug aufgebrochen zu sein scheint, den dampfenden Dschungel der Wiesen da draußen in Karawanen verlassen hat, um durch eine wirklich winzige Lücke, die seine Pioniere in die Gummidichtungen der Schwingtüren meines Wintergartens gefressen haben, einzubrechen in mein Reich, dort den schnurgeraden Schluchten zwischen den weißen Schneeflächen der Fliesen bis zur Schwelle meines Wohnzimmers folgt, diesen Bergkamm aus Aluminium so mühevoll hinter sich lassend wie der karthagische Haupttross mit seinen Elefanten damals den Col de Montgenévre, nämlich die Verwundeten mitschleppend und die Toten am Wegesrand zurücklassend, um danach in aufgefächerten Geschwadern über das Parkett an meinen Boxen und hinter dem Sofa mit den dort lauernden Spinnen vorbei über das Linoleum des Küchenbodens auszuschwärmen, entlang der Leisten des Einbauschranks schwindelndere Höhen zu erklimmen, als es seinerzeit selbst ein Alexander wagte mit seiner Leibwache am Khyber, um endlich, endlich, auf den silberglänzenden Hochebenen der Spüle anzukommen, am Ziel, wo das Heervolk entschlossen und erlöst über einen stecknadelkopfgroßen und längst eingetrockneten Orangensaftfleck herfällt, als wär's in einer sagenhaft-saharischen Oase ein kristallklarer und bernsteinkühler Teich süßestens Wassers.

So stehe ich eine ganze Weile, staunend, träumend und auch ein wenig eingeschüchtert, bis mich die Hand der Liebsten auf meiner Schulter in die Realität zurückholt: "Ameisen? Nimm Backpulver. Die platzen dann."

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