20 Jahre Mauerfall: Der Parteigründer, der kein Politiker werden sollte

Ende August 1989 rufen vier Oppositionelle in Ostberlin zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei auf - als Zeichen gegen den Allmachtanspruch der SED, sagt Martin Gutzeit, einer der vier.

v.l.n.r.: Der letzte DDR-Aussenminister Markus Meckel, der Vorsitzende der DDR-SPD Wolfgang Thierse und der SPD Ehrenvorsitzende Willy Brandt am 6. Oktober 1990 auf dem SPD-Parteitag in Halle Bild: AP

Der Mann Ende 50 wirkt entspannt. Vielleicht ist Martin Gutzeit in diesen Tagen ganz froh, damals, vor 20 Jahren, kein Berufspolitiker geworden zu sein. Seine Partei, die SPD, befindet sich gerade in einem historischen Tief. Ob ihn das nicht betrübt? "Soll ich in Tränen ausbrechen? Ich habe einiges hinter mir, deshalb bin ich optimistisch."

Mit dieser Grundeinstellung hat der Pfarrersohn aus der Lausitz einiges vorangebracht. Nicht für die eigene Karriere, wohl aber für den Lauf der deutschen Geschichte im Jahr 1989. Obwohl er schon damals wenig draufgängerisch aussah und heute ohne Bart und mit dünner Brille erst recht. Aber Gutzeit gehörte zu denen, die die Verhältnisse so gewaltig zum Tanzen brachten, dass sie danach umkippten.

4. September 1989, Leipzig/Böhlen: Im Anschluss an das Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche findet eine Demonstration von 1.200 Menschen statt. Sie skandieren: "Wir wollen raus!" In Böhlen treffen sich Vertreter sozialistischer Oppositionsgruppen und verabschieden einen Appell "Für eine vereinigte Linke in der DDR".

5. September, Westberlin: Heinrich Lummer, CDU-Rechtsaußen und Exinnensenator, gibt Kontakte zu Spionen aus der DDR zu.

8. September, Ostberlin: 116 Botschaftsbesetzer verlassen die Bonner Ständige Vertretung in Ostberlin. Sie wird für den Besucherverkehr geschlossen.

9. September, Wien/Budapest: Ungarn öffnet die Grenze zu Österreich für DDR-Bürger.

10. September, Ostberlin: Gründungsaufruf "Neues Forum", Jens Reich ist einer der Erstunterzeichner.

12. September, Ostberlin: Als Folge der Fluchtbewegungen will Politbüromitglied Günter Mittag "das Loch Ungarn zumachen". Stasiminister Erich Mielke befiehlt einen "Maßnahmeplan", der vorsieht, dass alle Reiseanträge nach Ungarn, Bulgarien und Rumänien zentral von der Stasi überprüft werden.

14. September: In Bonn gibt der Erfurter Pfarrer Edelbert Richter die Gründung der DDR-Oppositionsgruppe "Demokratischer Aufbruch" bekannt, die sich für eine "sozialistische Gesellschaftsordnung auf demokratischer Basis" ausspricht und unter anderem für Menschenrechte, Reise-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit und freie Wahlen in der DDR eintritt.

18/19. September, Leipzig: Die Volkspolizei sperrt die Zugangswege zum Nikolaikirchhof ab. Trotzdem gehen hunderte von Demonstranten im Anschluss an das Friedensgebet auf die Straße. "Wir bleiben hier!", lauten die Sprechchöre und nicht mehr, wie in den zurückliegenden Wochen: "Wir wollen raus!" Polizei und Stasi gehen zu Massenverhaftungen in der Stadt über. Zahlreiche Rockmusiker, Liedermacher und Unterhaltungskünstler fordern Demokratisierung und Reformen.

19. September, Ostberlin/Eisenach: Das Innenministerium Nikolaikirchhof lehnt den Gründungsantrag des Neuen Forums mit der Begründung ab, es stelle eine "staatsfeindliche Plattform" dar. Den Aufruf des Neuen Forums haben bis zu diesem Zeitpunkt 3.000 Menschen unterschrieben. Die Synode der Evangelischen Kirche in der DDR verabschiedet in Eisenach einen Beschluss, in dem sie eine pluralistische Medienpolitik, demokratische Parteienvielfalt, Reisefreiheit für alle Bürger, wirtschaftliche Reformen und Demonstrationsfreiheit als "längst überfällige Reformen" einklagt.

20. September, Warschau: Die Botschaft der Bundesrepublik in Warschau muss wegen Überfüllung geschlossen werden.

22. September, Ostberlin: Erich Honecker gibt sich uneinsichtig entschlossen, dass "alle Demonstrationen" und "feindlichen Aktionen im Keime erstickt werden müssen".

25. September, Leipzig: Auf der Montagsdemonstration in Leipzig fordern 5.000 bis 8.000 Demonstranten demokratische Reformen und die Zulassung des Neuen Forum.

25. September, Ostberlin: Verteidigungsminister Keßler bringt die Nationale Volksarmee befehlsmäßig für einen Einsatz in Berlin in Stellung.

27. September, Prag: Die CSSR-Regierung erklärt, dass es für die mittlerweile über 900 Prager Botschaftsbesetzer "keine ungarische Lösung" geben werde.

30. September, Ostberlin/Moskau/Prag: DDR lenkt im Prager Botschaftskonflikt auf sowjetischen Druck hin ein: Außenminister Genscher reist nach Prag und verkündet die Ausreiseerlaubnis für die Botschaftsbesetzer. ROLA

Er war einer der vier Männer, die vor 20 Jahren in der Golgatha-Kirche in Mitte mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit traten, um kundzutun: Wir haben die Absicht, eine Sozialdemokratische Partei in der DDR zu gründen. Die anderen drei Unterzeichner hießen Ibrahim Böhme, Markus Meckel und Arndt Noack. Heute ist Gutzeit Berliner Landesbeauftragter für die Stasiunterlagen, seit nun 16 Jahren.

Vielleicht war Gutzeit der unscheinbarste Vorantreiber der revolutionären Situation in der späten DDR, sicher jedoch war er einer der eifrigsten. Zu einer Zeit, als andere Oppositionelle noch nicht an die Möglichkeit eines radikalen Wandels zu denken wagten. Schon in den 1970er-Jahren hatte er mit seinem Pfarrerfreund Markus Meckel Seminare und private Studien zu philosophischen Fragen organisiert. Sie fühlten sich nicht nur durch ihren Glauben und Arbeitgeber verbunden, sondern durch ihre Erfahrungen als DDR-Bürger. Beide waren Wehrdiensttotalverweigerer, beiden war ein Uni-Studium verweigert worden.

Der gelernte Elektromonteur Gutzeit studierte deshalb Theologie und Philosophie am evangelischen Sprachenkonvikt Berlin. Im ostdeutschen Kirchenumfeld hatten sich viele kritische Geister versammelt, um darüber zu diskutieren, wie es in ihrem Land eigentlich weitergehen könne. "Wir hatten uns schon in den 1980er-Jahren ernsthafte Gedanken über die Zustände in der DDR und ihre mögliche Veränderung gemacht."

Bereits damals stellte Gutzeit die Machtfrage im kleinen Kreis seiner Oppositionsfreunde. "Kannst du dir vorstellen, Innenminister zu sein?", fragte er zum Beispiel. Schwer vorstellbar ist allerdings, dass Gutzeit selbst je Innen- oder gar - wie Freund Meckel später - Außenminister der DDR werden wollte. Er ist kein eloquenter Redner, manchmal verfällt er in leichtes Stottern. Er ist mehr der Mann im Hintergrund. Aber Gutzeit wusste schon damals, worauf es ankommt: Macht.

Der Weg zur Erkenntnis führte ihn und Meckel zunächst über schlingernde Pfade. Nach der Verhaftung von 120 Bürgerrechtlern bei der DDR-offiziellen Liebknecht-Luxemburg-Demonstration im Januar 1988, hatte man eine neue Organisationsform des Widerstands gesucht, erzählt er. So entstand das Konzept für einen Verein zur Förderung der Mitarbeit am gesellschaftlichen und politischen Leben in der DDR. "Bald sind uns jedoch Zweifel gekommen, ob eine Art demokratische Nationale Front das Richtige ist, um dem totalitären SED-Anspruch entgegenzutreten. Wir mussten die Machtfrage stellen und raus aus dem internen Oppositionsdiskurs."

Als Gutzeit im August 1988 an einer Arbeit zu Hegels Religionsphilosophie und Logik schrieb, hatte er sein Heureka. Noch heute erinnert er sich an seine "euphorische Stimmung", als er die "Gegenlogik gegen die scheinbar unüberwindlichen Machtverhältnisse" gefunden zu haben glaubte. Die Lösung lag in der Gründung einer Partei, gedacht als klares Zeichen gegen den Allmachtanspruch der SED. "Alles andere wäre halbherziges oppositionelles Verhalten gewesen."

Was fehlte, war die konkrete Ausrichtung. Gutzeit suchte nach einem "politischen Ort" und fand ihn bei der Sozialdemokratie. "Uns ging es nicht um einen dritten Weg oder die Verbesserung des DDR-Sozialismus, sondern um eine ökologisch orientierte soziale Demokratie, um Rechtsstaatlichkeit und um Marktwirtschaft." Da war er sich mit Meckel einig.

Als dieser im April 1989 die Partei-Idee in der oppositionellen Szene vorstellte, erntete er überwiegend Skepsis und Ablehnung. "Ich hatte selbst mit Bärbel Bohley gesprochen, aber sie wollte mit politischer Macht nichts zu tun haben", erinnert sich Gutzeit. Selbst in seinem engsten politischen Freundeskreis hätten viele Angst gehabt, ob eine Parteigründung nicht zu gefährlich sei und zu Verhaftungen führe.

Doch Gutzeit und Meckel ließen sich von ihrer Idee nicht abbringen. Letzterer verpasste dem Aufruf zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) in seinem Haus in Niederndodeleben bei Magdeburg den letzten Schliff, damit er beim "Menschenrechtsseminar" vom 24. bis 26. August in der Golgatha-Kirche öffentlich gemacht werden konnte.

Während jener Zeit formierten sich ringsum diverse Oppositionsgrüppchen zu stärker strukturierten Vereinigungen, alle jedoch mit Orientierung auf basisnahe Bürgerbewegung. Die Zersplitterung wurde durch persönliche Animositäten zwischen den Oppositionellen befördert, zu denen das von der Stasi gesäte Misstrauen beitrug. Dass der erste SDP-Geschäftsführer Ibrahim Böhme später ebenfalls als IM enttarnte wurde, verwunderte Martin Gutzeit nicht. Von Anfang an habe er ihn suspekt gefunden, allein es fehlten die Beweise. So war auch das MfS inoffiziell anwesend beim offiziellen, freilich illegalen Gründungsakt der SPD am 7. Oktober 1989 im brandenburgischen Schwante.

Die damals eher zurückhaltende West-SPD hat am Gründungsmythos praktisch keinen Anteil. Ein junger Westgenosse zeigte sich allerdings als großzügiger Unterstützer: Ehrhart Körting, ein damals offenbar gut verdienender Rechtsanwalt. Der heutige Berliner Innensenator habe noch vor dem Mauerfall 10.000 D-Mark rübergeschickt, so Gutzeit, "damit wir uns im Intershop PCs kaufen könnten". Das Geld wurde bei Bärbel Bohley abgeliefert, doch deren Mitstreiter Reinhart Schult habe es einfach für ihr "Neues Forum" behalten. "Körting hat dann dieselbe Summe noch mal an uns geschickt."

Draußen überschlugen sich die Geschehnisse. "Fast täglich kamen neue politische Handelsoptionen in den Blick", blickt Gutzeit immer noch etwas staunend zurück. Ende 1989 saß er am Zentralen Runden Tisch, ab März 1990 für seine zur SPD der DDR umbenannte Partei in der frei gewählten Volkskammer, wo er als Strippenzieher in der Fraktion galt. Von Oktober bis Dezember 1990 saß er im Bonner Bundestag.

Als die atemberaubende "Wende" ihrem geordneten Ausklang durch die gesamtdeutsche Bundestagswahl entgegenstrebte, musste Martin Gutzeit kürzertreten, sich um die Kinder kümmern. Seine Frau war zur Kur, weil sie nicht zuletzt die ständige Sorge um ihren Mann in der Vorwendezeit mitgenommen hatte. Aber auch er fühlte sich vom Mitrasen in den historischen Ereignissen geschlaucht. Trotzdem hätte der damals 38-Jährige gern "weiter Verantwortung übernommen" im neuen Bundestag. Aber er konnte die Vorstufe nicht überwinden. Der Wahlkreis Cottbus, in dem sein weggebaggerter Geburtsort Groß Lieskow lag, blieb ihm als Kandidat verschlossen.

Gutzeit kann sich an die Worte eines alten Genossen in der noch jungen ostdeutschen sozialdemokratischen Partei erinnern: "Nach dem Putsch kehren die Soldaten in die Kaserne zurück." Gustav Just, später der erste Präsident des Brandenburger Landtages, habe es ihm direkt ins Gesicht gesagt. "Ich wurde einfach abserviert." Das leise Bedauern ist unüberhörbar.

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