Erinnerungen retten: Es spricht der chinesische Mensch
Die Erinnerungsliteratur boomt in China. Sie ist eine großartige Gelegenheit, dieses gewaltige Land besser kennenzulernen.
Sommer 2008 in Peking. Die deutschen Medien berichten wieder einmal über Menschenrechtsverletzungen, Zensur, über das Rätsel, was das ist, "der chinesische Mensch". Warum lebt er so beengt, will man wissen, warum hat er nichts im Kopf als Arbeit und großes Geld, warum geht er so gern shoppen? Warum ist die chinesische Gesellschaft noch immer so konform?
Ich sitze mit meiner Freundin und Übersetzerin Li Man in einem kleinen Café in der lauschigen Straße in Pekings Altstadt, draußen spielen ein paar alte Männer Skat, eine junge Frau flaniert mit einem Baby auf dem Arm vorbei. Sowohl die Olympischen Spiele als auch der mediale Rummel um China könnten nicht ferner sein. Ich berichte Li Man von meinem Plan, ein Buch zu schreiben. Gespräche mit alten Leuten will ich führen, mit ganz normalen Chinesen, wie ich sie täglich bei meinen Streifzügen durch die Stadt beobachte, weil sie den öffentlichen Raum so viel selbstverständlicher zu besetzen scheinen als die alten Leute bei uns zu Hause. Ich will mir ihre Geschichten erzählen lassen, Alltagsgeschichten, Geschichten des privaten Lebens.
Li Man, die bei ihrem Großvater aufgewachsen ist und ihn, wie sie meint, viel zu selten mit Fragen gelöchert hat, will sofort dabei sein. Tags zuvor haben wir ein Interview mit Chinas derzeit bekanntestem Filmemacher Jia Zhangke geführt, der gerade in Cannes seinen neuen Film "24 City" vorgestellt hat, einen Film über die Erinnerungen einer Handvoll Arbeiter an ihre Fabrik, die geschlossen wurde.
"In China werden überall Erinnerungen zerstört und verwischt", sagte er uns. "Die Vergangenheit der Menschen ist ausradiert worden. Besonders Erinnerungen an vergangene Krisen wurden lange Zeit kaum gepflegt, sondern verdrängt und unterbunden." Als verwöhntes Einzelkind, das die Bitterkeit nie gekostet hat, weiß auch Li Man wenig über die politischen Kampagnen der Fünfzigerjahre, über die Hungersnot Anfang der Sechziger, die wahrscheinlich die größte der Menschheitsgeschichte war, oder die Demokratiebewegung der späten Achtzigerjahre. Sie fühlt sich angesprochen. Anderntags wird sie ihre Studienkollegen um die Telefonnummern ihrer Großeltern bitten - und diese dann streng ermahnen, ihre Erinnerungen pflichtschuldigst zu teilen und zu wahren. Obwohl es in China besonders schwerfällt, einem Fremden das Herz auszuschütten und freiwillig Salz in Wunden zu streuen.
In China leidet die offizielle Geschichtsschreibung unter einem verschärften Tunnelblick. In Schulbüchern wurden etwa vor Kurzem Seiten über die Revolutionsgeschichte und Mao Zedong gegen Seiten über Bill Gates und die New Yorker Börse ausgetauscht. In so einem Land liegt nichts näher, als auf die Suche nach Wahrheiten zu gehen und Zeitzeugen möglichst frei aus ihrem Leben erzählen zu lassen. Die Oral History wird bei Filmemachern und Autoren immer beliebter. Sie wird zum Diskussionsforum für sensible, tabuisierte Themen. In diesem chinesischen Bücherherbst, ein gutes Jahr nach der Olympiade, erscheinen gleich drei solcher Bücher, mit denen sich auch der westliche Leser ein plastisches Bild über das Leben in China zusammensetzen kann.
Allen voran: das erhellende, erschütternde und erheiternde Buch "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" (Fischer Verlag) von Liao Yiwu, der, wie kürzlich in dieser Zeitung zu lesen war, nun doch von der Regierung keine Ausreisegenehmigung bekommt und nicht auf der Frankfurter Buchmesse zugegen sein wird. Mehr als zehn Jahre hat Liao Yiwu Menschen in seiner Heimatprovinz Sichuan befragt; und weil er selbst vier Jahre eingesperrt war, nachdem er 1989 über die Demokratiebewegung gesagt hatte, was er dachte, fanden sogar einige Gespräche im Gefängnis statt. Da kommen Prostituierte, Klomänner und bitterarme Bauern zu Wort, "Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft", wie das in China verbotene Buch dort hieß, aber auch Leute, die gute Kinder der Partei hätten werden können, aber als Rechtsabweichler und Konterrevolutionäre vom vorgezeichneten Weg abkamen.
Das Faszinierendste an Liao Yiwus Buch sind die Sprechweisen seiner Interviewpartner, die sich zumeist als versierte Experten auf ihrem häufig vom Aussterben bedrohten Gebiet erweisen - sei es auf dem der Komposition, des Frauenhandels, der gespenstischen Rückführung von Leichen in ihre Heimatprovinzen oder des Gefängnisausbruchs. Liao Yiwu befragt sie mit fachkundiger Neugier, die mitunter an die eines Alexander Kluge erinnert. Alle Befragten sprechen mit solch punktgenauer Wut und solch atemberaubendem Witz von den subjektiven Auswirkungen der großen historischen Ereignisse in China, dass selbst jenem westlichen Leser die Spucke wegbleibt, der sich noch nie mit der Geschichte Chinas befasst hat. Wer dieses Buch gelesen hat, der wird nie wieder sagen, dass man sich unter den 30 Millionen Hungertoden der frühen Sechziger nichts vorstellen kann, der wird nie wieder fragen, was es mit dem Rätsel "Der chinesische Mensch" auf sich hat.
Ähnlich wird es diesem Leser mit zwei anderen Büchern gehen, die soeben erschienen sind. Da ist zum einen das der seit vielen Jahren in England lebenden Radiojournalistin Xue Xinran, die mithilfe einer riesigen studentischen Recherchegruppe ältere Menschen in ganz China aufgespürt und gesprochen hat. Wie in allen Büchern Xues ist die Autorin auch in "Gerettete Worte" (Knaus Verlag) wie davon besessen, ihren Interviewpartnern zu entlocken, wovon sie besonders dann ungern sprechen, wenn sie schmerzhaft waren: ihre Gefühle. Dabei wird es manchmal diffus, alles in allem erfährt Xinran aber besonders von den Menschen viel, auf die es die Oral History traditionell am meisten abgesehen hat: von denen, die sonst nicht zu Wort kommen.
Das dritte Buch ist der großartige kleine Band "Die Rechtsabweichler von Jiabiangou" (edition suhrkamp) mit "Berichten aus dem Umerziehungslager" von Yang Xianhui - das vielleicht wichtigste Stück chinesischer Gulagliteratur nach "Nur der Wind ist frei" vom berühmten ehemaligen Häftling und Dissidenten Harry Wu.
Während in China vergleichsweise viel über die Katastrophe der Kulturrevolution gesprochen wird, ist kaum bekannt, dass die politischen Kampagnen der Fünfzigerjahre viel schlimmer gewütet und weitaus mehr Menschen das Leben gekostet haben. Nach dem Schwarzbuch des Kommunismus landeten allein während der Anti-rechts-Kampagne 1957 etwa 10 Prozent der chinesischen Intellektuellen in den sogenannten Laogai, wörtlich im Nirgendwo, in die man nicht zur "Haft" oder "Zwangsarbeit" geschickt wird, sondern zur "Umerziehung". Eine große Zahl der sogenannten Rechtsabweichler überlebte die bald anschließende große Hungersnot im Lager nicht. So handelt "Die Rechtsabweichler von Jiabiangou" vor allem vom furchtbaren Hunger, der die wenigen, die nicht daran starben, beinahe in den Wahnsinn trieb. Es handelt aber auch von Überlebensstrategien, vom Versuch, einen Rest Würde zu wahren, von Durchwurschteln, Ausharren und von Flucht.
Eine der Geschichten, die man nach Lektüre nie wieder vergessen wird, ist die von Gao Jiyi, dem gelernten Arzt und heutigen Inhaber einer Pflanzenklinik in Lanzhou, der Hauptstadt der Provinz Gansu, die nicht weit entfernt liegt vom Lager Jiabiangou. Im ersten Kapitel erzählt Gao Jiyi von einem Vorfall, von dem er, wie er sagt, niemandem erzählt hat, "nicht einmal meiner Frau und meinen Kindern. Diese Sache quält mich und lässt mich manchmal sogar aus dem Schlaf aufschrecken." Dann erzählt Gao Jiyi davon, wie er einmal für das Verladen eines großen Kartoffeltransports außerhalb des Lagers abkommandiert wurde und sich mit seinen Mitinsassen nach getaner Arbeit einen ganzen Sack Kartoffeln kochen durfte. Natürlich essen alle so viel sie können, sie essen zu viel. Einem platzt schon auf dem Rückweg der Magen und er stirbt kurz darauf. Er selbst wird nach der Ankunft von einem Freund gepflegt, einem ehemaligen Ingenieur, der "gebildet war und freundlich zu allen! Und überdies sehr auf Ordnung und Sauberkeit bedacht."
Der Ingenieur massiert dem Erzähler die ganze Nacht den Bauch und hält ihm die Waschschüssel hin. Am anderen Morgen geht es dem Kranken besser. Er steht auf und begibt sich auf die Suche nach etwas Essbarem. Doch dann entdeckt er den Ingenieur, wie er bäuchlings auf dem Dach liegt. Er trocknet und isst die Kartoffeln, die sein Freund kurz zuvor erbrochen hat.
Menschen derart zum Erzählen zu bringen, so bildhaft und doch schnörkellos, dazu braucht es unendlich viel Mühe, Geduld, Sorgfalt und Einfühlungsvermögen. Allein das ist schon Grund, in die hier versammelten Geschichten einzutauchen. Und weil dieser Zeitungstext so leidenschaftlich enden soll, wie es sein Gegenstand verdient hat, muss auch Folgendes noch einmal gesagt werden: "Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst." Das gilt auch für Menschen aus China.
In Kürze erscheint Susanne Messmers Buch "Chinageschichten" mit Gesprächen mit alten Pekingern im Berliner Verbrecher Verlag
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