Grünen-Geschäftsführerin Lemke zu Jamaika: "Wie soll das zusammengehen?"
Was auf Länderebene klappt, muss nicht automatisch auch im Bund klappen, sagt Grünen-Geschäftsführerin Steffi Lemke. Die SPD hätte schon 2009 rot-rot-grüne Perspektiven schaffen sollen.
taz: Frau Lemke, 10,7 Prozent sind ein gutes Wahlergebnis. Aber viele Grüne sagen: Mit einer Machtperspektive hätten wir mehr erreicht. Stimmt das?
Steffi Lemke: Ich glaube, man wird erst mit etwas Abstand bewerten können, was für ein starkes Wahlergebnis das wirklich ist und wie viel unsere grünen Zuwächse inmitten der Wirtschaftskrise wiegen. Grün ist so stark wie nie zuvor. Aber dass wir de facto keine Regierungsoption hatten, war unser Manko in diesem Wahlkampf. Wir waren durch die Ausschlüsse von FDP, SPD und Linkspartei eingemauert. So eine Situation möchte ich nicht noch einmal erleben, auch wenn wir daraus das Beste gemacht haben. Der Großteil unserer Wähler verlangt außerdem, dass wir uns eine Regierungsoption erarbeiten.
Ist jetzt Jamaika angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse die wahrscheinlichste Variante einer solchen Option?
Wahrscheinlichkeitsrechnung ist keine politische Disziplin. Auf Bundesebene übersteigt es nach wie vor meine Fantasie, in einer Dreierkonstellation mit Union und FDP die Lagergrenzen zu überschreiten. Mögliche Konstellationen für das Jahr 2013 sollten wir erst 2013 diskutieren. Bis dahin wird sich viel in diesem Land verändern. Jetzt stehen erst einmal die Landtagswahlen im Mai in Nordrhein-Westfalen an. 2011 kommen sechs weitere Landtagswahlen. Dann beginnen wir mit den Vorbereitungen für die nächste Bundestagswahl.
Hängt also die Machtperspektive für die Grünen weiterhin vom Zustand der SPD ab?
Die grüne Machtperspektive hängt zuallererst von grünen Inhalten ab. Aber die SPD hat jetzt im Bund die Quittung dafür bekommen, dass sie sich den Realitäten verweigert und keine realistische Machtoption jenseits der großen Koalition aufgebaut hat. Es war ein schwerer Fehler der SPD, für 2009 keine rot-rot-grüne Perspektive geschaffen zu haben. Das muss sich bis 2013 ändern.
Es sieht aber erst einmal so aus, als ginge es für die SPD weiter bergab. Bleibt für die Grünen übrig: Jamaika oder Schwarz-Grün.
Das muss man sich anschauen, wenn es so weit ist. Schwarz-Gelb hat jetzt im Vergleich zu 2005 in absoluten Zahlen 300.000 Stimmen verloren. An der Macht sind sie nun, weil 2 Millionen SPD-Wähler zuhause geblieben sind. Es hat keine Wende zu Schwarz-Gelb gegeben, sondern dieses Ergebnis ist der Mobilisierungsschwäche der SPD geschuldet.
Wenn Ihre Fantasie also nicht ausreicht …
Ich bin aber ein fantasievoller Mensch!
… um sich Jamaika vorzustellen: Woran liegt das?
An der aktuellen Politik von CDU/CSU und FDP, die wir gerade bei den Koalitionsverhandlungen erleben. Was wir erleben, ist der größte Wahlversprechensbruch aller Zeiten. Hoffentlich fällt der FDP wieder der Wahllügen-Untersuchungsausschuss ein, den sie 2002 gefordert hat. Für so eine Politik sind wir nicht zu haben. Wir stehen für Steuersenkungen, für die unsere Kinder und Enkel blechen müssen, genauso wenig zur Verfügung wie für die Privatisierung der Pflegeversicherung. Der FDP konnte die Schuldenbremse gar nicht hart genug sein - nur um sie bei der erstbesten Gelegenheit in einem Sonderfonds zu verstecken. Wir wollen aus der Atomkraft aussteigen, statt Sicherheitsrisiken und Atommüll zu vermehren. In der Bildungspolitik wird unter Schwarz-Gelb Deutschland weiter Schlusslicht bleiben. Wie soll das mit uns zusammengehen? Wer jetzt meint, von Jamaika im Saarland auf den Bund schließen zu können, liegt damit falsch. Ich finde, man sollte die Landeskirchen in den Ländern lassen und jetzt die Saarländer erst einmal den Praxistest machen lassen.
Ihre Fantasie endet an Lagergrenzen. Diese werden aber von vielen Grünen bestritten. Die Grünenwähler seien da weiter als die Funktionärskaste der Partei, heißt es.
Man sollte auch die Fantasie der vermeintlichen Funktionärskaste nicht unterschätzen. Aber im Ernst, an beidem ist etwas dran: Für eine Mehrheit der grünen Wählerschaft tut sich aus inhaltlichen Gründen ein tiefer Spalt zu Union und FDP auf. Es sind aber größtenteils dieselben Leute, die auch sagen: Wenn es für Rot-Grün nicht reicht, können wir uns deshalb nicht von jedem Regierungs- und damit Gestaltungsanspruch verabschieden. Ich will, dass wir den Kurs der grünen Eigenständigkeit fortsetzen und auf Inhalte und Werte setzen. Freiheit für eigenständige, gut begründete Entscheidungen in den Ländern heißt dann aber auch Unterstützung für die richtige Entscheidung im Bund. Offenheit für neue Konstellationen darf nicht heißen, dass unsere Oppositionsarbeit auf Samtpfötchen daherkommt.
Wenn die Grünen etwas für eine rot-rot-grüne Mehrheit tun wollen, müssen sie dann nicht sowieso Angebote an die schwarz-gelbe Klientel machen?
Grüne Politik anbieten ja, grüne Politik verbiegen nein. Wir erleben doch im Moment einen grünen Trend. Wenn in Zeiten der größten Wirtschaftskrise grüne Themen Konjunktur haben, bleiben davon auch Unionswähler nicht unberührt. Für den kleinen progressiven Teil des CDU-Lagers waren wir schon länger wählbar. Aber jetzt bei der Bundestagswahl hatten wir die größten Zugewinne von jungen Leuten, die sich häufig keiner Partei zugehörig fühlen, aber von unserer Politik angesprochen fühlen. Und von ehemaligen SPD-Wählern. Uns wird mit Abstand der höchste Glaubwürdigkeitswert zugesprochen. Das ist unser größtes Pfand.
Übersehen die grünen Rot-Rot-Grün-Befürworter, wie groß die Vorbehalte auch im grünen Milieu gegen die Linkspartei sind?
Ich bin mir absolut sicher, dass keine Koalition mit der Linkspartei schön wäre. Und auch 2013 wird die Linkspartei keine Regierungsverantwortung übernehmen können, wenn sie sich programmatisch nicht weiterentwickelt und keine vernünftige Vergangenheitsbewältigung betreibt. Solange ein Bodo Ramelow indirekt den Schießbefehl an der Mauer zu leugnen versucht, kann ich mir keine enge Zusammenarbeit mit jemandem wie ihm vorstellen. Aber auch die Koalition mit der SPD war kein Kindergeburtstag - ich sage nur: Wolfgang Clement! Mit inhaltlichen Kontroversen kann und muss man in jeder Koalition umgehen.
Thüringen hat gezeigt, welche Gegensätze innerhalb der Grünen aufbrechen, sobald Rot-Rot-Grün in Sichtweite gerät.
Die grüne Debatte ist dort innerparteilich extrem fair und auf hohem Niveau geführt worden. Und unsere harten Bedingungen an die Linkspartei haben zu Bewegung geführt: Für die Grünen wurde für die Sondierungsgespräche eine Frau mit Stasivergangenheit aus der Verhandlungskommission zurückgezogen. Bodo Ramelow hat sich darauf eingelassen, in einer Erklärung die DDR als Unrechtsstaat zu bewerten. In Brandenburg verzichtete die Spitzenkandidatin um der Koalition willen auf einen Ministerposten. Und offenbar scheinen die Tage von Oskar Lafontaine in der Linkspartei auch gezählt. Da bewegt sich doch einiges - wohin genau, muss man kritisch und genau beobachten.
Könnte sich der Abstand zwischen Grünen und Linkspartei nicht als größer erweisen als der zwischen SPD und Linken?
Na ja, das muss man differenziert betrachten. Schauen Sie sich doch nur das Festhalten der SPD am Neubau von Kohlekraftwerken an. In einigen Feldern halte ich den Abstand für etwa gleich, in anderen ist die Linkspartei deutlich weiter von uns entfernt als die SPD.
Die Grünen wollen aber weiterhin demokratisch gewählte Politiker der Linkspartei dazu zwingen, auf ihnen zustehende Posten zu verzichten?
Ich glaube, dass jemand, der auf bestimmten Positionen in der DDR Verantwortung getragen hat, dies im 21. Jahrhundert in der Bundesrepublik nicht tun sollte. Das ist im öffentlichen Dienst auch nicht möglich.
Frau Lemke, in Sachsen-Anhalt sind Sie an der Bundestagskandidatur gescheitert. Haben Sie noch etwas anderes vor, als politische Geschäftsführerin zu bleiben?
Die Kandidatur in Sachsen-Anhalt war ein Angebot an den Landesverband, ihn mit meiner Erfahrung auf dem Weg in die Landtagswahl 2011 zu unterstützen. Dieses Angebot wurde aus unterschiedlichen Gründen abgelehnt. Spannenderweise auch von Vertretern des Realoflügels mit der Begründung, dass ich als politische Bundesgeschäftsführerin unabkömmlich wäre. Das muss ich akzeptieren, auch wenn ich mir etwas anderes gewünscht hätte. Aber ich schau da mit Freude nach vorn: Ich will jetzt einen hervorragenden Rostocker Parteitag aufs Parkett legen und dann daran arbeiten, die Partei in Zukunft zu noch besseren Wahlergebnissen zu kriegen.
Oder halten Sie sich zufällig für die Nachfolge von Parteichefin Claudia Roth im kommenden Jahr bereit?
Claudia Roth hat einen hervorragenden Wahlkampf gemacht und steht als Bundesvorsitzende für das beste grüne Ergebnis aller Zeiten. Wir werden uns keine Nachfolgedebatten aufdrängen lassen. Ich bin politische Bundesgeschäftsführerin und möchte nächstes Jahr auch noch einmal als solche kandidieren, auch um dann den nächsten Wahlkampf vorzubereiten.
Wieder mit vielen Doppelspitzen?
Unsere Vielfalt ist eine Stärke. Natürlich ist das mit unseren Doppelspitzen nicht immer einfach: Es war im Wahlkampf manchmal schon nervig, vier Leute organisatorisch unter einen Hut zu bekommen. Aber es ist auch eine Stärke, weil wir mit vielen verschiedenen Gesichtern, Charakteren, Temperamenten an vielen Stellen Präsenz zeigen - und zuletzt damit ein großartiges Wahlergebnis hatten.
Wir dachten, die Grünen würden nur wegen ihrer großartigen Inhalte gewählt?
Werte und Inhalte funktionieren aber noch besser mit Köpfen, die sie überzeugend und glaubwürdig vermitteln können. Programm, Kampagne und Köpfe müssen dabei übereinstimmen. Das war der Fall. Und natürlich wird es auch jetzt in der Fraktion neue und junge Leute geben, die sich mit ihren Inhalten profilieren werden.
Und wenn jetzt von den Landesvorsitzenden Tarek Al-Wazir und Robert Habeck den beiden Wahlkämpfern Trittin und Künast "sattsame Selbstbeweihräucherung" vorgeworfen wird, ist das ein erstes Signal für einen Wechsel an der Fraktionsspitze?
Moment, die Formulierung steht in einem Antrag an die Bundesdelegiertenkonferenz und richtet sich als Appell an die ganze Partei und nicht an einzelne Personen. Damit sind ausdrücklich auch die Landtagsfraktionen gemeint. Da kehrt am besten jeder vor der eigenen Tür. Unsere Aufgabe ist jetzt: gemeinsam eine starke Opposition gegen die schwarz-gelbe Bundesregierung auf die Beine zu stellen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels