Kolumne Neue Werte: Der geistige Schattenhaushalt

Wenn die Koalition alte linke Politik macht, welche Politik macht dann eine neue Linke?

Ob ich den Artikel über Angela Merkels Strategie in der Zeit schon gelesen habe, wollte meine Frau wissen. "Natürlich nicht", antwortete ich. "Du weißt doch genau, dass ich mich den ganzen Tag von PR-Menschen zuquatschen lassen und Artikel redigieren muss, wenn ich nicht gerade Kolumnen schreibe, um Zeilen zu schinden, die das Budget nicht mehr hergibt. In der verbliebenen Zeit werde ich von dir einkaufen, abspülen oder das Kind aus der Kita abholen geschickt. Wann bitte schön soll ich Zeitungen lesen? Es wäre mal an der Zeit, den überkommenen Gerechtigkeitsbegriff der Linksorthodoxie durch die Dimension der Zeit zu erweitern. Setzt sich eigentlich irgendjemand in diesem Land für Zeitgerechtigkeit ein? Du leistest dir eine unproduktive Tätigkeit wie Zeitunglesen, während ich etc.pp."

So lamentierte ich vor mich hin und beeilte mich, besagten Artikel zu studieren: Unter der Überschrift "Was sie wirklich vorhat" analysiert Bernd Ulrich die Strategie der Kanzlerin, die Hegemonie der Union zu festigen, indem man die ureigensten Politikfelder der Linken besetzt, ihre Projekte vereinnahmt und den Leuten gibt, was sie haben wollen. Um das tun zu können, müsse man in die Gesellschaft hineinhorchen, und das beherrsche Merkel wie keine andere.

Wenn die Koalition also den Eindruck sozialer Härte vermeiden, Offenheit in Sachen Migrationspolitik demonstrieren und eine pragmatische Atompolitik formulieren kann, dann gibt es wenig Konfliktpotenzial, das sich die Linke nutzbar machen kann, glaubt Ulrich. Womöglich werden sich auch manche der 40 Prozent Grünen-Wähler in meinem Kiez bestens von der neuen Regierung repräsentiert fühlen, mag man hinzufügen.

Könnte aber auch sein, dass das alles ganz und gar nicht klappen wird, weil es zu kurz greift. Ich sage nur Schattenhaushalt. Wer schon vor der Regierungsbildung ankündigt, dass er seine Tätigkeit mit Geld aus der Zukunft bezahlen will, der braucht von Nachhaltigkeit nicht zu reden.

Womit wir wieder beim Problem der Zeit wären. Wenn der Klimawandel einerseits schnelle Maßnahmen fordert, andererseits die Krise der alten Industrien Arbeitsplätze kostet, gibt es Bedarf nicht nur für einen grünen New Deal, also etwa ein europaweites Investitionsprogramm in Straßenbahnnetze, das Daniel Cohn-Bendit vor kurzem vorgeschlagen hat. Er empfiehlt außerdem, mal wieder André Gorz zu lesen. Der will zu Recht wissen, was eine Politik bewirkt, "die Erwerbsarbeitsfähigkeit auf Kosten von Mußefähigkeit und Ausbildung auf Kosten von Bildung fördert, obwohl die Ökonomie immer weniger Arbeit braucht und immer mehr Zeit freisetzt?" Anders gefragt: Wieso haben die einen zu viel Zeit, aber nicht die Mittel, sie sinnvoll zu verleben? Und wieso haben jene, die Letzteres haben, keine Zeit? Angela Merkel jedenfalls macht nicht den Eindruck, darüber je nachgedacht zu haben.

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Kulturredakteur der taz. Hat Geschichte und Publizistik studiert. Aktuelles Buch: "'Wir sind die Türken von morgen'. Neue Welle, neues Deutschland". (Tropen/Klett-Cotta 2023).

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