Kolumne Landmänner: Schmetterlinge im Schrank

November? Schneeregen? Depressionen? Kein Grund, durchzudrehen. Sie brauchen bloß Winterreifen.

Jörg Schönbohm geht. Die Kraniche auch. Die Blätter fallen ab. In Brandenburg wird es winterlich. Weshalb das Auto neue Winterschuhe braucht, Allwetterreifen.

Als ich den Wagen bei meinem aus Polen stammenden Schrauber in Berlin-Kreuzberg abholte, hoffnungsvoll neu bereift, rauchten wir noch eine Zigarette zusammen, "Hallo, mein Freund", begrüßte er mich wie immer, und das bezieht sich mittlerweile nicht mehr nur auf die vielen Geldscheine, die ich ihm regelmäßig in seine kleine Hinterhofwerkstatt bringe.

Er saß ganz alleine auf seinem alten ledernen Chefsessel in der leeren Werkstatt, ich war an diesem Tag sein einziger Kunde gewesen. Während aus dem kleinen Kofferradio Cooljazz ertönte, sannen wir über das Ende des automobilen Zeitalters nach. "Die Leute verkaufen alle ihre Autos, weil sie sie nicht mehr finanzieren können. Sie fahren lieber Rad." Ich schlug vor, dass er doch eine Fahrradwerkstatt eröffnen könne - und mit einem verschmitzten Grinsen deutete er auf zwei Fahrräder, die neben einem großen Stapel Winterreifen standen, "kann man versuchen. Noch zwei Jahre habe ich den Vertrag für die Werkstatt, solange werde ich versuchen, durchzuhalten. Nicht mal der Winter spielt mehr mit, früher gab es spätestens im November jede Menge Unfälle wegen Glatteis, da war immer was zu tun".

Ich versuchte ihn damit zu trösten, dass es Probleme mit meinem Drosselklappenventil gibt - und dass die Stoßdämpfer ja auch bald fällig würden. "Ja, die können wir machen, im Frühjahr", antwortete er melancholisch, während von draußen ein kalter Luftzug in die Werkstatt gelangte und ein Windstoß kurz, aber bestimmt am hölzernen Tor rüttelte. November. Nun heißt es, durchzuhalten. Man muss Kerzen und Kissen bei Ikea kaufen, die Selbstmordgedanken in Leitz-Ordner abheften und in der hintersten Ecke des Regals deponieren, so dass sie in Vergessenheit geraten wie die Steuererklärung aus dem Vorjahr. Nun heißt es, sich im Inneren einen bunten, klimpernden Jahrmarkt aus positiven Gedanken zu errichten, der einen aufrecht hält, bis man im Vorweihnachtstrubel gar keine Zeit mehr hat, dunklen Gedanken nachzuhängen.

Als ich mit dem neu bereiften Auto endlich in unserem brandenburgischen Straßendorf ankam, waren die kleinen Sprossenfenster hell erleuchtet - mein Mann war also doch schon zu Hause. Als ich hineinkam, schlug mir Wärme entgegen, alle Öfen waren beheizt. Er saß im Wohnzimmer in seinem Sessel, die Katzen auf dem Schoß und hörte Fontanes "Stechlin", gelesen von einem Herrn mit angenehm brummender Stimme. Ein Schmetterling, ein Pfauenauge, flatterte unruhig zwischen Fenster und Stehlampe hin und her, stets beäugt von den Katzen, die bereit gewesen wären, ihm den Rest zu geben, wenn er nur nicht so weit oben herumfliegen würde. "Was macht der denn hier - im November?", fragte ich ungläubig.

"Er ist aufgewacht aus seinem Winterschlaf, weil es so warm ist im Haus" sagte mein Mann. Er stand auf und nahm den Schmetterling vorsichtig in seine Faust, trug ihn zum Wandschrank und sperrte die Tür hinter ihm zu. "Dort drin ist er direkt an der Außenwand, da ist es kühler und er kann wieder schlafen. Wir dürfen nur nicht vergessen, ihn im Frühjahr wieder herauszulassen." Halten Schmetterlinge wirklich Winterschlaf? Ich weiß so was gar nicht. Aber ich war in diesem Moment auf jeden Fall bereit, es zu glauben.

Aber wie dem auch sei: Ich bin im Wandschrank, wecken Sie mich bitte im Mai. Nicht vergessen! Danke.

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* 21. Februar 1973 in Wittlich; † 26. Mai 2023 in Berlin, war Redakteur der taz am Wochenende. Sein Schwerpunkt lag auf gesellschaftlichen und LGBTI-Themen. Er veröffentlichte mehrere Bücher im Fischer Taschenbuchverlag („Generation Umhängetasche“, „Landlust“ und „Vertragt Euch“). Zuletzt erschien von ihm "Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik" im Suhrkamp-Verlag (2018). Martin Reichert lebte mit seinem Lebensgefährten in Berlin-Neukölln - und so oft es ging in Slowenien

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