Rede zur Lage der Nation in Russland: Medwedjew klagt das System an

Der russische Präsident fordert sein Land auf, archaische Strukturen zu überwinden und sich zu modernisieren. Russland sei für seine Zukunft selbst verantwortlich. Außerdem kritisiert er Putin indirekt.

In Stil und Form hebt sich Präsident Medwedjew deutlich von seinem Protégé Premierminister Putin ab. Bild: dpa

MOSKAU taz "Statt wirrer, auf Nostalgie und Vorurteilen beruhender Aktivitäten werden wir eine Politik betreiben, die sich an pragmatischen Zielen orientiert", sagte Dmitri Medwedjew zum Auftakt seiner zweiten Rede zur Lage der Nation. Wer wollte, konnte dies als Kritik an der bisherigen Politik verstehen, die Medwedjews Ziehvater Wladimir Putin über 10 Jahre zu verantworten hatte.

Im Georgiewski-Saal des Kremls hatten sich wie jedes Jahr die Abgeordneten der Duma, des Föderationsrats, die Regierung und allerlei Honoratioren versammelt. Anders als Vorgänger Wladimir Putin, der den Inhalt der Botschaft bis zuletzt geheim hielt, war die Stoßrichtung der diesjährigen Rede seit längerem bekannt. In einem Internetbeitrag ("Vorwärts Russland!") hatte Medwedjew im September ein schonungsloses Bild von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft in Russland gezeichnet und gleichzeitig die Bürger aufgefordert, sich mit Vorschlägen an der Modernisierung des Landes zu beteiligen. In Stil und Form hebt sich Präsident Medwedjew deutlich von seinem Protégé Premierminister Putin ab. In der Umsetzung der Politik hielt er sich bislang an die Vorgaben der herrschenden Elite, der er seinen Posten zu verdanken hat.

Wenn Russland wieder Weltmacht werden wolle, müsse es die "chronische Rückständigkeit" überwinden und "grundlegend modernisiert" werden, sagte Medwedjew. Statt weiterhin von primitiver Rohstoffwirtschaft abhängig zu sein, müsse Russland endlich die Grundlagen für eine Wissensökonomie schaffen und neue Technologien entwickeln. Medwedjew nannte die Pharmazie und Telekommunikation als wichtige Sektoren. Auch die Gesellschaft nahm er von der Notwendigkeit zur Veränderung nicht aus. Sie sei archaisch, sagte der Kremlchef, weil "sie die politischen Führer für sich denken und entscheiden lasse". Ein modernes Russland bräuchte indes eine "Gesellschaft von freien, verantwortungsbewussten und klugen Menschen". Nur mit ihnen seien auch Innovationen zu erreichen. Russische Modernisierungsversuche schlossen bislang den Faktor Mensch von den Veränderungen bewusst aus. Politische Überlegungen eines lenkbaren Bürgers waren wichtiger als dessen wirtschaftliche und gesellschaftliche Effizienz.

Der Kremlchef hat einen klareren Blick für die strukturellen Schwierigkeiten des Landes als sein Ziehvater Wladimir Putin. Putin saß denn auch mit unbeweglicher Miene in der ersten Reihe. Auch die anderen Gäste zeigten während der ungewöhnlich langen Rede von mehr als anderthalb Stunden kaum eine Regung. Russlands politische Elite ist in der Mehrheit konservativ und einer Modernisierung gegenüber nicht aufgeschlossen. Die Ankündigung des Kremlchefs, die staatlichen Großkonzerne und Korporationen aufzulösen, da sie weder effektiv noch konkurrenzfähig seien, muss diese Klientel als Bedrohung empfinden. Die Zentralisierung der Schlüsselindustrien war ein Kernziel der Politik Putins.

Der Unterschied zum Premier machte sich auch in der Gewichtung der Außenpolitik deutlich. Während Putin dem Thema immer sehr viel Zeit widmete und außenpolitische Entwicklungen zum Angelpunkt des politischen Selbstverständnisses erhob, äußerte sich Medwedjew nur kurz dazu. Sie müsse pragmatisch sein und sich daran messen lassen, ob sie zur Verbesserung der Lebensverhältnisse im Lande beitrage. Die Botschaft war eindeutig: Es macht keinen Sinn, die Schuld für die Rückständigkeit des Landes anderen Mächten in die Schuhe zu schieben. Russland ist für seine Zukunft allein verantwortlich.

Dmitri Medwedjew

Comments

[Jens Siegert]

Das Problem liegt nicht so sehr in Medwedjews Reden. Denen kann man meist zustimmen (was übrigens für ähnliche Reden des Präsidenten Putin 2002 und 2003 auch galt). Das Problem ist, dass Medwedjews (fast) nichts dazu gesagt hat, wie das anders als bürokratisch-dirigistisch umgesetzt werden soll. Das wirft die Frage auf, ob er überhaupt will, kann, darf. Einige weitergehende Gedanken dazu in meinem Blog unter http://blog.boell-net.de/blogs/russland-blog/archive/2009/11/12/medwedjews-rede-zur-lage-der-nation-kann-nicht-will-nicht-darf-nicht.aspx

[gregor]

Putins Aufgabe war den russischen Staat überhaupt am Leben zu erhalten. Die Aufgabe von Medwedew ist die weiche Modernisierung. Man will in die Nato und einen Zusammenschluss mit der EU. Vor allem verspricht man dem Volk, dass es dafür nicht gefoltert wird, sondern dass alles anständig gemacht wird. Auf der anderen Seite gibt es die große Angst, dass durch die Weicheierei von Medwedew, der Staat wieder zerstört wird, wie es die "Modernisierer" Gorbatschow und Jelzin davor getan haben. Darum ist auch Putin da. Ohne das Gewicht von Putin ist Medwedew eine Nullnummer, aber Putin braucht Medwedew, weil nur so ein leichtgewichtiger Typ die weiche Modernisierung machen kann. Putin will eine weiche Modernisierung. Interessant ist natürlich, was passieren würde, wenn die weiche Variante scheitert. Wird Putin die brutale Kraft finden, um selber eine harte Modernisierung durchzuführen als Tyrann in der Art von Peter I und Stalin?

[anke]

Französisch den Franzosen – und denen, die es beherrschen! Ein Protegé ist ein Schützling oder Günstling. Medwedjew, nicht Putin ist der Beschützte!

[Markus]

Modernisierung Rußlands, das würde z.B. bedeuten, Putin und seine Generäle nach Den Haag zu überstellen. Das würde bedeuten, die gesamte Mannschaft Putins wegen milliardenschwerer Korruption und Veruntreuung juristisch zur Verantwortung zu ziehen. Das wird aber in den kommenden Jahrzehnten nicht passieren. Also wird's in den kommenden Jahrzehnten auch keine Modernisierung Rußlands geben, sondern den sukzessiven Staatszerfall.

[Philipp]

Dontah:

"Die Ankündigung des Kremlchefs, die staatlichen Großkonzerne und Korporationen aufzulösen, da sie weder effektiv noch konkurrenzfähig seien, muss diese Klientel als Bedrohung empfinden. Die Zentralisierung der Schlüsselindustrien war ein Kernziel der Politik Putins."

Wer hat den bitte Medwedew zum Präsidenten gemacht? Erkenn Sie langsam Putins Plan, Herr Donath? Sein Plan: Modernisierung, und mittelfritig Liberalisierung des riesigen Landes, ohne vom Westen (oder vom Westen bezahlten Russen) gleichzeitig ausgeplündert zu werden!