die wahrheit: Der Tag, an dem ich unsichtbar wurde
Ich mag Lärm, wenn er von den Goldenen Zitronen, The Fall oder Turbostaat kommt. Ich zwänge mich gerne zwischen andere Lärmfreunde in stickige Räume, ...
... schalte die Großhirnrinde aus und ergebe mich der Faszination des rhythmisch organisierten Getöses. (Texte verstehe ich dabei nicht, die lese ich später im Internet oder auf den Plattencovers nach.) Am liebsten halte ich mich unweit des Mischpults auf, wo der Krach koordiniert wird, denn gut koordinierter Krach gefällt mir besser als schlecht oder gar nicht koordinierter Krach.
Seit 30 Jahren besuche ich Rockkonzerte. Lange Zeit war dies, von kleineren Innenohr- und Gleichgewichtsinsuffizienzen einmal abgesehen, wenig problematisch. Vor drei Jahren aber, bei Dinosaur Jr. in der Hamburger Markthalle, passierte es zum ersten Mal. Seitdem wiederholt es sich auf jedem Konzert, so sicher wie der Tag des Murmeltiers.
Es beginnt damit, dass auf der Bühne der Drummer des Hauptacts viermal seine Trommelstöcke gegeneinander schlägt, für die Musiker das Zeichen, in die Saiten und Tasten zu greifen, für einen zwei Meter hohen und ebenso breiten Wrestler das Zeichen, urplötzlich aus der amorphen Menschenmasse vor mir aufzutauchen, mich ohne Federlesens mit dem Handrücken seiner Linken wegzuwedeln wie ein Zweiglein einer Trauerweide am Elbufer.
So bahnt sich der Wrestler einen Weg zum Tresen, denn der Wrestler hat Durst. Und er bahnt seit Dinosaur Jr. seinen Weg stets durch mich hindurch. Noch ehe ich wieder auf den Beinen bin, folgt dem Wrestler eine Expedition durstiger Lederjackenmänner durch den ebenso lärmenden wie stockdunklen Menschendschungel. Der Pfad führt unweigerlich über mich, und die Expedition lässt nicht mehr nach, bis zwei Stunden später der letzte Gitarrenakkord verklungen ist. Hin und wieder blitzt die Klinge einer Machete auf, dann schmerzt ein Knüppel, den ein Expeditionsteilnehmer mir in die Rippen stößt, und alle trampeln über meine Füße. Bei den Flaming Lips im Docks schleppten halbnackte, ausgemergelte Gestalten gar ein Schiff an Hanfseilen über mich hinweg.
Meine Versuche, dem Getrampel, Gestoße und Geknüppel zu entkommen, schlagen stets kläglich fehl. Der Wrestler findet mich mit traumwandlerischer Sicherheit. Wo immer ich mich bei Konzerten hinstelle, ist der Pfad der Durstigen und Latrinensuchenden.
Es gibt nur eine Erklärung für dieses Phänomen: Niemand kann mich sehen, der Wrestler so wenig wie all die anderen Suchenden. Mit dem ersten Ton eines Konzerts bin ich unsichtbar.
Glücklicherweise endet der Spuk mit dem Ende des Lärms. Beweise für die Unsichtbarkeit gibt es reichlich: die unzähligen blauen Flecken von den Knüppeln, die Fußabdrücke auf meinen Schuhen, der Wrestler, der nach dem Konzert glaubwürdig versichert, mich noch nie gesehen zu haben, das Mädchen hinterm Tresen, das allen Durstigen Bier verkauft hat, nur mir nicht.
Vielleicht sollte ich mich der klassischen Musik zuwenden.
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