Montagsinterview mit Kerstin Behnke: "Als Kind habe ich Spielmannszüge geliebt"
Sie ist eine der wenigen Frauen, die Orchester und Chöre dirigieren - und in manchen Situationen ertappt Kerstin Behnke sich dabei, wie sie auch in der Familie versucht, den Ton vorzugeben.
taz: Frau Behnke, Sie sind Dirigentin für Chöre und Orchester und haben sich darauf spezialisiert, Stücke von unbekannten Komponistinnen aufzuführen. Warum?
Kerstin Behnke: Es gab immer Frauen, die dirigiert und komponiert haben. Die erste Oper, die außerhalb Italiens aufgeführt wurde, war von einer Frau. Sie kennt heute kein Mensch mehr: Francesca Caccini.
Nie gehört.
Sie wurde Ende des 16. Jahrhunderts geboren und war die Tochter eines berühmten Komponisten. Komponistinnen hingegen hatten es immer schwerer, öffentlich wahrgenommen zu werden. Die, die es geschafft haben, waren wahnsinnig taffe Frauen, die sich gegen alle klassischen Rollen gestellt haben.
Wie schaffen Sie es, das Publikum für Musikerinnen zu interessieren?
Es geht mir darum, diese Stücke ins allgemeine Repertoire zu holen und sie anderen Werken aus derselben Zeit oder Gattung gegenüberzustellen. Dadurch kann das Publikum hören, dass Komponistinnen Werke geschaffen haben, die den Vergleich mit ihren berühmten Zeitgenossen nicht scheuen müssen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Die letzte Saison mit meinem Konzertchor, der Berliner Cappella, stand unter dem Motto "Berühmte Männer - Starke Frauen". Die Leute kamen wegen Johann Sebastian Bach und sie gingen mit einer Komponistin wie Marianne Martinez, die sie vorher noch nicht gekannt hatten.
Liegt Ihnen eine Komponistin besonders am Herzen?
Ja, Lili Boulanger. Sie ist Anfang des 20. Jahrhunderts gestorben, mit nur 24 Jahren. Sie hat so tief berührende Stücke geschrieben, mit wunderschönen Texten. Kompositorisch sehr ausgereift mit einer sehr eigenen Sprache, die auf der Höhe der Zeit ist - viele Frauen haben sehr konservativ komponiert, um nicht noch mehr Gegenwehr hervorzurufen. Sie nicht.
Sie selbst komponieren nicht, oder?
Nein, dazu habe ich nicht den Drang. Ich sehe Noten und höre sie sprechen und will dann was daraus machen. Diese Arbeit liebe ich wirklich sehr.
Das klingt so, als wenn Sie schon immer Dirigentin werden wollten.
Kerstin Behnke wurde 1969 in Hamburg geboren. Sie begann dort, Germanistik und Anglistik auf Lehramt zu studieren, entschied sich dann aber für die Musik und ging 1994 nach Berlin, um an der HdK Orchesterleitung zu studieren. Sie lebt mit ihrem Mann, einem Komponisten, und zwei Söhnen in Lichterfelde.
Orchester und Chöre in ganz Deutschland hat sie bisher dirigiert, 2009 zudem das New Japan Philharmonic Orchestra in Tokio und die Philharmonie Novosibirsk. Sie ist Leiterin der Chöre Tonikum der Charité, der Berliner Cappella und des Ensembles Saitenblicke.
Sie will vergessene Komponistinnen einem breiten Publikum zugänglich machen. Für ihr Diplomkonzert mit den Berlinern Symphonikern wählte sie nicht etwa Brahms oder Beethoven, sondern Werke der Komponistin Lili Boulanger aus. Vor drei Jahren führte sie mit ihrem Berliner Cappella-Chor Ethel Smyths Oper "Der Wald" von 1902 in der Philharmonie auf.
Die Berliner Cappella tritt am 9. Dezember im Kammermusiksaal der Philharmonie auf. Am 11., 12. und 13. Dezember dirigiert Behnke den Tonikum-Chor für "The Himmelfahrt Radio Show" im HAU.
Wenn man musikalisch begabt ist, dann kommen natürlich immer viele Leute und sagen: "Du musst Musik machen!" Meine Eltern haben das immer ein bisschen gebremst: Musik war zwar wichtig, aber nur als Hobby. Zunächst wollte ich Lehrerin werden, habe auch mit Lehramt angefangen, weil ich eine Verletzung an der Hand hatte und die Aufnahmeprüfung für die Musikhochschule nicht machen konnte. Als ich dann später an die Musikhochschule kam, war mir sehr schnell klar, dass ich Musikerin werden will. Als Kind wollte ich eigentlich Physik und Mathematik studieren.
Physik und Mathematik - da sind Sie ja ganz schön abgedriftet.
Na ja, Musik hat auch etwas Mathematisches. Sie ist nicht einfach nur emotional - ihr liegt ein sehr ausgefeiltes, meist logisches System zugrunde. Auch bei Bach oder Mozart, selbst wenn das viele Leute desillusioniert.
Sie müssen als Dirigentin sagen, wo es langgeht und eine große Gruppe von Sängern oder Musikern während eines Konzerts zusammenhalten. Stoßen Sie als Frau dabei auf Schwierigkeiten?
Nein, bisher nicht. In einem großen Orchester findet sich immer der eine oder die andere, der oder die mit meiner Interpretation nicht einverstanden ist. Das ist einfach so. Ich versuche natürlich, alle zu überzeugen. Aber manchmal muss ein Musiker oder eine Musikerin auch gegen die eigene Überzeugung spielen. Denn letztlich muss ich für die Interpretation geradestehen und nicht ein einzelnes Mitglied des Orchesters.
Sie geben anscheinend gern die Richtung vor.
Als Kind habe ich Spielmannszüge geliebt. Vor allem den, der vorne wegging mit dem großen Stab. Das habe ich immer mit einem Regenschirm nachgespielt. Ich konnte nie gut das machen, was die anderen wollten. Wenn ich sagte, wir wollen jetzt das und das machen, dann musste das auch so geschehen. Das wird ja bei Jungs oder Männern lieber gesehen.
Sind Sie als Kind unangenehm aufgefallen?
Ich weiß heute noch, was mir mal eine Referendarin in der Schule ins Poesiealbum geschrieben hat: "Es war einmal einer, der wollte stets der Erste sein, da brach er sich den großen Zeh und ging als Letzter hinterdrein."
Wie gemein.
Ja, oder? Komisch, dass ich mir das gemerkt habe. Damals habe ich das nicht als so schlimm empfunden. Einem Jungen hätte sie das sicherlich nicht ins Poesiealbum geschrieben.
Fühlen Sie sich auch heute noch als Frau anders behandelt als Ihre männlichen Kollegen?
Das ist schwierig einzuschätzen, weil es oft um ganz andere Unterschiede als den zwischen Mann oder Frau geht. Es ist schon so, dass es unter zehn Dirigenten vielleicht eine Frau gibt, die fällt schon allein aufgrund ihres Geschlechts auf. Oft werde ich als Frau mit großer Offenheit angenommen. Die Leute sagen dann: "Toll, das ist mal was anderes." Oder die Haltung ist genau andersrum: O nein, das ist anders, das kann doch nicht sein. Man erlebt sowohl das eine als auch das andere.
Für Laien ist die Aufgabe einer Dirigentin nicht so ganz verständlich. Es sieht ein bisschen nach verrücktem Herumfuchteln aus. Was genau machen Sie eigentlich, wenn Sie da vorne stehen?
Zum einen ist da das Taktgeben. Das ist gerade bei großen Orchestern sehr wichtig, weil die Musiker ja teilweise sehr lange auf ihren Einsatz warten. Beim ersten Schlag eines Taktes geht mein Arm immer von oben nach unten. Das heißt, die Musiker können auch aus dem Augenwinkel sehen, wann ein neuer Takt beginnt. Sie können ihre Pausentakte mitzählen. Jeder Einsatz muss so vorbereitet sein, dass ein Streicher seinen Bogen ansetzen oder ein Bläser seine Stütze aufbauen, also in Ruhe einatmen kann. Chöre brauchen den genauen Taktschlag hingegen nicht so sehr. Die sehen meistens in ihren Noten, was die anderen singen. Da kann man dann nur noch anzeigen, wie es klingen soll.
Und wie bringen Sie rüber, wie es klingen soll?
Mit Körpersprache, mit den Armen, mit den Augen. Ich habe das Dirigieren verinnerlicht, ich übe nicht vor dem Spiegel. Ich arbeite mit dem, was da kommt. Man muss selber genau wissen, wie es klingen soll, dann kann man es auch ausdrücken. Zu manchen Leuten hat man schnell einen guten Draht. Bei anderen muss man sich überlegen, ob man ein bisschen nachgibt in dem, was man will. Des Gesamtergebnisses wegen. Bei Soli zum Beispiel kann es wichtig sein, Spielraum zu geben, damit sich die Solisten entfalten können.
Aber wie genau kommunizieren Sie mit dem Chor oder Orchester?
Am liebsten mit den Händen. Den Dirigierstock nehme ich nur, wenn das Ensemble groß ist. Ohne Stock kann ich mehr ausdrücken, weil die Hände und Finger mehr Möglichkeiten bieten - ich kann meine Hände öffnen, drehen, zeigen.
Und was genau sagen offene Hände dem Orchester?
Das kommt darauf an. Es kann zum Beispiel heißen, den Klang zu öffnen.
Das verstehe ich nicht. Was heißt "Klang öffnen"?
Tja, das ist schwierig zu beschreiben. Es hat mit der Steigerung der Lautstärke zu tun, aber das ist eben längst nicht alles. Es geht ebenso um Klangfarbe und den musikalischen Ausdruck. Es gibt ein schönes Zitat des italienischen Dirigenten Claudio Abbado, der während einer Probe einmal gefragt wurde: "Herr Abbado, wie sollen wir denn jetzt spielen: laut oder leise?" Er antwortete: "Laut oder leise interessiert mich nicht, Sie sollen schön spielen." Da muss man immer suchen. Klare Ansagen wie Mezzoforte oder Piano sagen zwar etwas aus, sind aber sehr kalt. Und letztlich stören sie nur. Die Musik muss einen wahren Ausdruck haben.
Sind Sie auch im Privaten die, die den Ton angibt?
Ich stelle mich nicht immer in den Mittelpunkt, außerhalb der Arbeit. In unübersichtlichen Situationen ertappe ich mich manchmal dabei, wie ich schnell meine Stimme erhebe und versuche, die Dinge zu regeln - aber mein Mann oder meine Kinder lassen sich nicht von mir dirigieren.
Sie dirigieren auch im Ausland. Anfang des Jahres haben Sie in Tokio Beethovens 9. Symphonie mit dem New Japan Philharmonic Orchestra aufgeführt. Macht es einen Unterschied, Musiker aus anderen Kulturen zu dirigieren?
Im Grunde nicht - aber in Japan war es sehr spannend. Da habe ich ein Konzert mit 5.000 Sängern in einer Sumoringer-Halle geleitet. Ich war sowohl die Jüngste als auch die erste Frau, die dieses jährlich stattfindende Konzert je dirigiert hat. Das hat bei denen fast Panik ausgelöst. Ich war die Erste, die mit Chor und Orchester wirklich gearbeitet und nicht einfach nur das Stück durchgespielt hat.
War das ein Problem?
Ja, offensichtlich. Ein Chordirektor hinter mir hat plötzlich mitdirigiert. Da habe ich der Dolmetscherin gesagt, sie möge ihn bitten, das zu unterlassen. Sie hat es ihm, in japanisch höflicher Form, weitergegeben. Später erklärte sie mir, dass in dem Moment, als etwas nicht sofort klappte, er das Gefühl hatte, bei der Chorstudierung versagt zu haben. Ich bin zwar als Dirigentin die oberste Instanz, aber als jüngere Frau in der teilweise noch sehr strengen japanischen Hierarchie hatte ich einen wesentlich niedrigeren Status.
Hat es trotzdem noch geklappt?
Ja, das Konzert war sehr, sehr schön, und ich wurde für kommendes Jahr wieder nach Tokio eingeladen.
Mit Ihrem Kammerchor Tonikum treten Sie an ungewöhnlichen Orten auf, in Schwimmbädern zum Beispiel. Was steckt dahinter?
Wir sehen den Konzertraum nicht nur als Kulisse, sondern wollen ihn und seine Geschichte in das Konzert mit einbauen. So haben wir zum Beispiel eine Reihe "Strom, Wasser, Gas" veranstaltet und sind in einem Umspannwerk, einem Schwimmbad und einem Windkanal aufgetreten. Für das Wasser-Konzert in dem alten Schwimmbad Steglitz habe ich eine Improvisation mit akustischen Wellenbewegungen aus den Umkleiden heraus entwickelt. Es geht immer darum, dem Publikum etwas mehr zu geben als ein Konzert. Gerade bei A-cappella-Gesang ist das sehr gut möglich. Wir wollen neue Horizonte eröffnen und existentielle Fragen stellen.
Dirigieren Sie lieber Chöre oder Orchester?
Beides gleich gern. Mit Chören ist die Arbeit sehr an Sprache orientiert. Man ist emotional dichter dran an den Leuten, weil Singen etwas sehr Persönliches ist. Ein Instrument spielen ist auch persönlich. Aber wenn ich einem Instrumentalisten sage, das klang nicht so gut, dann kommt es vor, dass er sein Instrument absetzt und daran herumschraubt. Mit der Stimme geht das nicht. Deswegen hat man vielleicht eine noch engere Bindungen an jemanden, der singt, als an jemanden, der spielt.
Das heißt es stimmt, dass Singen die Menschen zusammenbringt?
Nach dem Singen sind die Leute plötzlich so offen. Nach einer Chorprobe sind alle irgendwie mehr nach außen gerichtet und ausgelassener. Auch mich verändern diese Proben: Ich muss hören, hören, hören. Dann wird das Gehörte in meinem Kopf analysiert und verändert, und ich muss es wieder herausgeben - mit Korrekturen und neuer Inspiration. Das ist wie so ein Fluss, der durch mich hindurchgeht. Und ich muss die Konzentration oben halten und die Leute mitreißen. Danach bin ich hypersensibel, als hätte sich der Horizont erweitert, und ich nehme alles überdeutlich wahr.
Singen Sie auch zu Hause mit Ihrer Familie?
Ja, sehr viel. An Weihnachten zum Beispiel singen wir die klassischen Weihnachtslieder. Das normale Singen und das Singen der wunderschönen alten Volkslieder ist leider in Misskredit geraten. Dabei ist Singen so verbindend. Einfach nur Singen, frei von irgendwelchen Ideologien.
Welche Bedeutung hat das Singen an Weihnachten für Sie?
Ich bin nicht religiös. Aber Weihnachten hat einen Zauber, weil es die Zeit ist, in der es immer dunkler wird und man sich immer mehr zurückzieht. Und ein paar Tage, nachdem es am Dunkelsten war, ist Weihnachten, und man zündet Lichter an. Es ist Beginn und Hoffnung, die man in die Welt setzt. Man nimmt sich plötzlich anders wahr - Singen ist geistiges und körperliches Öffnen.
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