Bildung: Zwischen "uns" und "denen"

Seit zehn Jahren hilft der türkische Elternverein Familien. Es geht nicht um den Nachweis der größtmöglichen Integrationsbereitschaft, sondern um Bildungschancen

Die Hausaufgabenhilfe in der Gesamtschule West : Michael Bahlo

Das Gedicht ist lang und Muhammed hat keine Lust mehr, es auswendig zu lernen. "Ich habe fertig", ruft der Neunjährige und springt vom Stuhl. "Muhammed, es heißt: ,Ich bin fertig'", korrigiert ihn Müsüde Ceyhan freundlich und fordert ihn auf, die erste Strophe aufzusagen. Das klappt noch nicht so ganz und Muhammed setzt sich wieder hin, den Kopf über das DIN-A 4-Blatt gebeugt, die Ellenbogen aufgestellt. Müsüde Ceyhan dreht sich zurück zu zwei Mädchen, die an diesem Donnerstagnachmittag Anfang Dezember ebenfalls zur Hausaufgabenhilfe in die Gesamtschule West gekommen sind. In vier Klassenräumen brennt noch Licht, 16 Kinder machen hier ihre Hausaufgaben, betreut von sechs jungen Frauen und einem Mann.

Alle Kinder sprechen neben Deutsch auch Türkisch. Die Sprache ist bei vielen der Grund, warum sie zur Hausaufgabenhilfe des Türkischen Elternvereins kommen. "Manche Eltern können nicht genug Deutsch, um ihren Kindern helfen zu können", sagt Ceyhan. Andere wiederum brauchen die Hilfe aus denselben Gründen wie Kinder ohne Migrationshintergrund: Sie sind genau so klug wie ihre Mitschüler, aber ihre Eltern haben zu wenig Zeit, sie zu fördern. "Ich kann auch sagen, warum ich hier bin", ruft Muhammed. "Weil mein Vater arbeitet und meine Mutter zu …". Er guckt die Hausaufgabenlehrerin fragend an, dann fällt ihm das Wort wieder ein. "Weil sie zu beschäftigt ist." Die gleichaltrige Hilal, die Englisch-Vokabeln paukt, erzählt, dass sich ihre Noten verbessert haben. "In Deutsch habe ich eine vier geschrieben und dann eine zwei!"

35 Kinder kann der im April 2001 gegründete Türkische Elternverein derzeit auf diese Weise unterstützen, sie dürfen in jeder Woche zweimal für anderthalb Stunden kommen, wenn eine Klassenarbeit ansteht auch öfter. Ansonsten sind die Regeln streng: Wer mehr als dreimal unentschuldigt fehlt, muss den Platz räumen, es gibt eine Warteliste. An zwei Schulen im Bremer Westen bietet der Elternverein die Hausaufgabenhilfe an, von Montag bis Freitag, die 17 Aushilfslehrer und -lehrerinnen gehen selbst noch zur Schule, studieren oder sind bereits fertig mit dem Studium. Die meisten sprechen wie ihre Schüler und Schülerinnen auch Türkisch.

Ausgesucht hat die jungen Leute Edhem Dirlik, eine Autorität im Bremer Westen. "Hier kennt ihn jeder", sagt der Vorsitzende des Türkischen Elternvereins Reyhan Savran über seinen "Ehrenvorsitzenden". Als 18-Jähriger kam Dirlik nach Deutschland, das ihm damals als ein wunderbares Land der Möglichkeiten und der Technik erschien. Auch heute noch kommt ihm kein schlechtes Wort über das Geburtsland seiner beiden Kinder über die Lippen. Seit 1980 arbeitet Dirlik bei der Bildungsbehörde als Übersetzer, seit 1986 hat er ein eigenes Büro in der Gesamtschule West. Sehr aufgeräumt ist es darin, in einem Regal stapeln sich Türkisch-Deutsch-Wörterbücher, über seinem Schreibtisch hängt ein Plakat, auf dem Rosa Luxemburg abgebildet ist und ihr Ausspruch "Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden". Dirlik stellt gleich zu Beginn des Gesprächs klar, dass dies nicht das Büro des Elternvereins ist - der hat keine eigenen Räume. Dennoch ist Dirlik weit mehr als ein Übersetzer von einer Sprache in die andere. Er übersetzt Kulturen und vermittelt in Konflikten zwischen Lehrern und Schülern. "Ich kenne die Mentalität besser", sagt er und dass man manchmal strenger mit den Jugendlichen sein müsste, ihnen nicht so viel durchgehen lassen dürfe - sie aber dennoch respektvoll behandeln müsse. "Ich stehe für jeden, der hier reinkommt auf, und begrüße ihn mit Handschlag."

Der 55-Jährige ist ein viel gesuchter Mann. Immer wieder klingelt während der anderthalb Stunden das Telefon, Schülerinnen und ein Lehrer stecken den Kopf zur Tür hinein, es geht um ein zweisprachiges Theaterprojekt und um das Benefiz-Essen der Schule, das dieses Jahr zum Teil dem Elternverein zugute kommen soll. In seiner Freizeit macht er Hausbesuche - "um zu sehen, ob die Räume für Kinder geeignet sind" - organisiert Elternabende und, in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule, türkischsprachige Kurse für Väter, eine Bremer Besonderheit.

Fortbildung für Väter

Neun Männer und ein Junge, der nicht anders betreut werden konnte, sitzen an einem Samstagvormittag im November um einen langen Tisch im Dachgeschoss des Vatan Spor-Gebäudes in Gröpelingen. Der Fußballverein stellt seine Räume für Veranstaltungen des Elternvereins zur Verfügung, heute ist es das Väter-Bildungs-Programm, das nach türkischem Vorbild konzipiert wurde. Der Kursleiter, ein Mathematiklehrer, dessen Ausbildung in Deutschland nicht anerkannt wird, hält am Kopfende einen Vortrag über die körperlichen Entwicklungsstufen des Kindes. Beim letzten Mal waren "Ichbotschaften" dran, rekapitulieren die Väter im Alter von Ende zwanzig bis Ende vierzig. Anschließend verstricken sie sich in eine Diskussion darüber, welche Sportart für Kinder am besten ist, ob Kampfsport die Selbstdisziplin besser fördert als Fußball. Savran, der Elternvereinsvorsitzende, übersetzt das Gespräch. Obwohl es die meisten von ihnen auch auf Deutsch führen könnten, sprechen sie türkisch, damit niemand ausgeschlossen wird. Es sind nicht die Männer, die einen solchen Kurs dringend nötig hätten. "Die, die kommen, sind sich ihrer Elternrolle sehr bewusst", sagt Savran, der selbst vier Kinder im Alter von zwei bis 15 hat. "Die schwierigen Fälle erreichen auch wir nicht."

Es sind auch nicht ihre Kinder, die gemeint sind, wenn Politiker und Medien die schlechten Schulleistungen "der Kinder mit türkischem Migrationshintergrund" beklagen sowie den mangelnden Willen der Eltern, sich mehr um die Schule zu kümmern. Selbstverständlich geht der zweite Vorsitzende des Vereins, Ali Gündüz, davon aus, dass sein elfjähriger Sohn wie dessen sieben Jahre ältere Schwester das Abitur machen wird. Aber damit man ihn nicht missversteht: Gündüz, der 41-jährige Schichtarbeiter, gibt nicht den Vorzeigetürken, der mit seinem Bildungsstreben ergeben seine Integrationsbereitschaft beweist. "Ich mache das nicht, um mich zu integrieren", sagt er, "sondern damit meine Kinder es besser haben als ich, mehr Chancen." Und die, findet er, müssen sie nicht in Bremen wahrnehmen und auch nicht in Deutschland, "die können überall hingehen, in die Schweiz und nach Norwegen". Gündüz gerät in Fahrt, zitiert einen Bericht aus dem Spiegel - "Türken sind die Verlierer der Integration" - über eine Studie, die Türkischstämmigen eine besonders niedrige Akademikerquote bescheinigt. Gündüz glaubt, dass die Zahlen nicht stimmen, dass die Türken mit deutschem Pass nicht miteinbezogen worden sind. "Wenn man das machen würde, dann käme heraus, dass wir häufiger Abitur machen!"

Im Dienst der Gesellschaft

Dirlik unterbricht ihn. Nicht, weil die Studie seine langjährige Erfahrung bestätigt hat, nach der sich viele türkische Familien mit dem Bildungssystem tatsächlich sehr schwer tun. Sondern, weil Gündüz Worte benutzt hat, die er nicht hören will. "Wir und ihr", sagt Dirlik mit seiner sanften, freundlichen Stimme, "das bringt uns nicht weiter". Und dann hebt er an zu einem Kurz-Vortrag, den er schon hundertmal gehalten haben muss und den er noch hundertmal wiederholen wird. "Wir sitzen alle in einem Boot, wir müssen allen Jugendlichen eine Chance geben, eine gute Ausbildung ist das Wichtigste, damit vermeiden wir Probleme in unserer Gesellschaft, die uns allen allen schaden." Und weil er weiß, dass es mit Worten nicht getan ist, beschließt Dirlik seine Rede mit einem Appell. "Wir müssen uns ehrenamtlich engagieren."

Die Männer in der Runde, die ihm zuhören, wissen das längst. Einer spart am Schlaf, um Arbeit, Ehrenamt und Familie unter einen Hut zu bringen, ein anderer bricht regelmäßig das Versprechen an seine Frau, weniger Abendtermine wahrzunehmen. So viele wollen mit ihnen reden, über Klassenfahrten, Schwimmunterricht und Bildungschancen, auch der Zentralelternbeirat Bremen, mit dem sie 2009 zu einem Kennenlern-Wochenende auf Borkum waren. "40 Jahre wollte niemand etwas von uns wissen", wundert sich Savran, "und jetzt sollen wir plötzlich zu allem etwas sagen."

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