Kolumne Landmänner: Drei Nüsse für unseren Schutzengel

Ein Wintermärchen mit Daisy, Frau Hippe und Frau Holle, gelben Engeln und dem Tischlein-Deck-Dich aus Brandenburg.

Wir wollten nur nachsehen, ob im Ort Kuhflecke in Sachsen-Anhalt jene Märchenburg noch steht, die mein Mann als Vierzehnjähriger bei einem Ausflug ins DDR-Grenzgebiet entdeckt und die zu bewohnen er sich damals erträumt hatte. Doch als wir bei bereits eingebrochener Dunkelheit den Ort erreicht hatten, war die Burg nicht mehr zu finden und der Traum somit endgültig geplatzt.

Auf der Rückfahrt verwandelten allerdings kleine Kobolde die Straße von einer Sekunde zur anderen in eine Eisbahn, so dass wir uns drehten und drehten und drehten - und dann mit einem Rumms in eine Leitplanke knallten, die zuvor ein Schutzengelchen dort platziert hat. Wir blickten uns an. Der Motor röchelte ersterbend, nur Agnetha Fältskogg besang unbeirrt die elfenhafte "Dancing Queen".

Wir stiegen aus, unversehrt, und draußen erwartete uns schon ein guter Geist. Ein alter Herr aus dem nahe gelegenen Dorf hatte sofort angehalten, kümmerte sich, stellte Warndreiecke auf, verständigte über Telefon Hilfe. Wir standen in der Kälte und blickten auf die großen Bäume und den dunklen Fluss hinter der Leitplanke, der unser Schicksal hätte werden können.

Ein Samariter mit Blaulicht kam, um uns zu retten. Wir schickten ihn freundlich wieder nach Hause. Trolle mit blauen Uniformen näherten sich und stibitzten unser letztes Bargeld gegen Ausgabe einer Quittung, auf der "Ordnungswidrigkeit" stand. Zuletzt erschien ein gelber Engel, der uns und unser demoliertes Gefährt auf seinen schweren Wagen lud.

Eine Kutsche mit gelbem "Taxi"-Schild brachte uns später zum Geisterbahnhof Wittenberge, gelegen zwischen Nirgendwo und der Prignitz. Der Droschker erzählte von Techno und betrunkenen jungen Mädchen, die nicht mehr wissen, wo sie wohnen. Wir standen ganz alleine und verfroren in der verlassenen, längst nicht mehr benutzten Bahnhofshalle und lauschten den Türen, die von Frau Holle sanft angepustet in ihren Scharnieren quietschten.

Wie von Zauberhand gesandt hielt der letzte ICE Hamburg-Berlin auf dem Gleis 9 3/4 des Bahnhofs Wittenberge. Und als wir endlich im Warmen saßen, mundeten das "Fitness-Sandwich" für 4,95 Euro und der Bordtreff-Kaffee wie durch ein Wunder, als ob Wolfram Siebeck aus Versehen sein Tischleindeckdich im Großraumabteil zweiter Klasse hätte liegen lassen. Alles schmeckte nach Leben, und als ich den Unterarm meines Mannes an dem meinen auf der Sitzlehne spürte, wurde mir klar, dass wir gerade Frau Hippe mit Hilfe der Deutschen Bahn AG abgehängt hatten.

Aber gestern hatte sie ein Ticket nachgelöst und es schon wieder versucht. In Berlin, das von "Daisy" mit einem riesigen weißen Tuch überzogen wurde. Auf dem Nachhauseweg flog mir mit einem lauten Wumms ein Golf vor die Füße, der von der gegenüberliegenden Fahrbahn herübergesegelt kam. Auf seiner Flugbahn hatte er am Zaun des Mittelstreifens einen Reifen samt Aufhängung verloren, landete dann aber sauber auf den verbliebenen dreien. Eine junge Frau stieg aus und schrie die Gaffenden an, dass es hier nichts zu sehen gebe. Frau Hippe verkrümelte sich daraufhin rasch zu McDonald's am Hermannplatz, das Schutzengelchen flatterte erschreckt davon. Und aus dem Auto kletterten noch drei junge Männer, alle waren unversehrt geblieben.

Ein Heinzelmännchen repariert nun unser Auto, und es ist am Ende gar nicht schlimm, dass es die Burg in Kuhflecke nicht mehr gibt. Wichtig ist, dass es im Leben wie im Märchen zugeht. Und am Ende alles gut wird.

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* 21. Februar 1973 in Wittlich; † 26. Mai 2023 in Berlin, war Redakteur der taz am Wochenende. Sein Schwerpunkt lag auf gesellschaftlichen und LGBTI-Themen. Er veröffentlichte mehrere Bücher im Fischer Taschenbuchverlag („Generation Umhängetasche“, „Landlust“ und „Vertragt Euch“). Zuletzt erschien von ihm "Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik" im Suhrkamp-Verlag (2018). Martin Reichert lebte mit seinem Lebensgefährten in Berlin-Neukölln - und so oft es ging in Slowenien

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