Kunstentdeckung: Das Gefäß der Moderne
Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe widmet erstmals in Europa der japanischen Flechtkunst eine Ausstellung - aus einer lange verloren geglaubten hauseigenen Sammlung, die von Weltgeltung ist.
Ein Ereignis ist ein Ereignis. Selbst dann, wenn kaum einer es zur Kenntnis nimmt. So ein Ereignis ist die Ausstellung "Kagoshi" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe über Japanische Bambusflechtkunst. Ja richtig: Bambusflechtkunst, Körbe, Schalen, Blumenvasen vor allem. Und wie gesagt, ein Ereignis, das uns alle angeht: Nicht nur, aber auch weil große Teile der europäischen klassischen Moderne, von Duchamp bis zur arte povera und der Land Art, das Gefäß dieser im 19. Jahrhundert fabrizierter Vasen, ihren diskursiven Raum, kaum überschreiten. Weil die klassische Moderne, wenn man so will, nur eine Fußnote zu einer japanischen Tradition ist, die bereits im 16. Jahrhundert ihren Ausgang nimmt.
Ein Ereignis ist aber zu allererst, wie und dass die Ausstellung zustande gekommen ist. Mit leeren Kassen konfrontiert, sah sich das Museum gezwungen, vermehrt die eigene Sammlung zu zeigen. Da traf es sich, dass vor einigen Jahren in verstaubten Truhen eben jene Sammlung von 200 Körben wieder aufgetaucht war, die der Gründer des Museums, Justus Brinkmann, zwischen 1885 und 1898 angelegt, und die das Museum nach dem 2. Weltkrieg als verschollen abgeschrieben hatte. Gezeigt werden die Körbe nun zum ersten Mal in Hamburg, und es ist zugleich das erste Mal, dass japanische Körbe überhaupt in einem europäischen Museum zu sehen sind. In Japan gab es erste Ausstellungen zur Bambusflechtkunst in den 1980er Jahren, später folgen Ausstellungen in den USA.
Brinkmann sei seiner Zeit weit voraus gewesen, erzählt Nora von Achenbach, Leiterin der asiatischen Abteilung des Museums. Eine historische Sammlung wie die seine gebe es kein zweites Mal. Statt Exportware zu kaufen, wandte sich der Museumsgründer über einen japanischen Mittelsmann an die Kagoshi genannten Korbmeister. Und an was für welche! Allein 60 Körbe der Sammlung stammen vom legendären Shokosai (1815 - 1897), der als Erster seine Werke signierte und damit die Korbflechterei in den Rang der bildenden Künste erhob.
Brinkmann hatte die Körbe damals gekauft, um das norddeutsche Kunsthandwerk zu inspirieren. Jetzt, wo sie auf filigranen Gestellen auratisch beleuchtet werden, erscheint die Vorstellung fast absurd, dass Handwerker sich die Körbe einmal zu Studienzwecken mit nach Hause nehmen konnten.
Auf den ersten Blick fasziniert an den gut 100 Werken, die auf drei Ausstellungsräume verteilt sind, die Formenvielfalt. Ob acht-, sechs- oder dreieckig, Trapez, Rombe, Ellipse oder Kreis: Es ist, als deklinierten die Vasen das Vokabular der euklidischen Geometrie. Und das mit einer Perfektion, die wiederum die Vorstellung absurd erscheinen lässt, dass Menschenhand jeden einzelnen Bambushalm gespalten, gewunden und geknüpft habe. Bis zu drei Monaten, heißt es, saß ein Kagoshi an einem Korb. Aber was sind schon drei Monate für einen Korb, verglichen mit den Jahren der Ausbildung: "Um ein ernstzunehmender Korbflechter zu werden", so soll Shokosai gesagt haben, "braucht es fünf Jahre, um die Technik zu erlernen; weitere fünf Jahre, um die Augen an zahlreichen Werken der vorherigen Korbflechter zu schulen; und noch fünf Jahre um das Hirn zu trainieren. Zusammen dauert es 15 Jahre, bis man sich selbständig machen kann; aber um ein Meister zu werden; gar als einer zu gelten, braucht es noch weitere Jahre Übung."
wurde 1815 als Hayakawa Togoro nordöstlich von Kyoto geboren. Er stammte aus einer Samurai-Familie, entschloss sich aber gegen seinen Stand, den wenig angesehenen Beruf eines Korbflechters zu ergreifen.
Sein Handwerk erlernte er auf einer zehnjährigen Wanderschaft durch verschiedene Provinzen.
In Osaka ließ er sich 1845 nieder, zu dieser Zeit soll er sich auch seinen Künstlernamen zugelegt haben.
"Shoko" bedeutet "Verehrung des Alten", "sai" wird mit mit "Studio" übersetzt und ist als Suffix im Künstlernamen später von vielen Korbflechtern verwendet worden.
Mit der stupenden Materialbeherrschung, wie sie sich in den geometrischen Formen der Körbe auslebt, ist aber nur die eine Seite der Korbflechtkunst begriffen, deren chinesische Herkunft. Die Japaner haben dieser alten Tradition eine Materialästhetik hinzugefügt, die nicht auf Beherrschung, sondern auf einem Gewährenlassen der Natur beruht. So wirken einige Körbe von Shokosai, für die er nicht mehr Bambushalme verwendete, sondern Wurzelwerk, als habe er sie direkt der Erde entrissen und das Gewirr nur noch ein wenig in Form bringen müssen. Arbeitszeit: Vielleicht ein gutes Stündchen.
Mit diesem sehr praktischen und zeitökonomischen Verfahren bezieht sich Shokosai auf einen großen Vorgänger. So bastelte der legendäre Teemeister Sen no Rikyu (1521 - 1591) einst den kruden Korb eines Fischers mit ein paar Handgriffen zum Blumenkorb für die Zen-Disziplin des Ikebana (Blumensteckens) um. Rikyu verrückte damit einen Gegenstand aus dem profanen Raum des alltäglichen Gebrauchs in den sakralen Raum des Teehauses, machte aus einem Gebrauchsgegenstand ein Objekt der Kontemplation, der ästhetischen Anschauung und der sozialen Kommunikation, in unserem Vokabular: zu einem Werk der Kunst. Rikyus Korb kann deshalb als erstes Objet trouvé der Kunstgeschichte gelten, vergleichbar dem Fahrrad-Rad mit Gabel auf weißem Hocker, mit dem sich Marcel Duchamp mehr als 300 Jahre später dem totalen Ready-Made annäherte.
Shokosai knüpft bisweilen an Rikyus Verfahren an, bisweilen versucht er es, mit der chinesischen Tradition zu vereinen. Bestes Beispiel ist dafür ein Korb, der im Bauchbereich noch auf klassische chinesische Weise mit gespaltenen Halmen geflochten ist, sich aber zum Hals immer mehr japanisiert und verwirrt, und schließlich von dem Objet trouvé eines Wurzelstocks als Griff gekrönt wird. Mit Vorliebe verwendete er für seine Körbe auch alten Bambus aus den Dachkonstruktionen der Bauernhäuser, der durch das offene Kohlefeuer im Laufe der Zeit eine dunkle Patina angenommen hatte.
Brisant ist dabei, dass sich die Kagoshi mit ihren Arbeiten immer auch in einem politischen Kontext bewegten. Die offizielle Kulturpolitik verordnete aus Tokyo damals eine Besinnung auf Rikyu und dessen ästhetischen Ideale der Einfachheit und Naturnähe. Im Bestreben sich als Nation zu präsentieren, wurden chinesische Einflüsse regelrecht unterdrückt. Eins der großes Verdienste der Ausstellung besteht deshalb auch darin, dass sie anhand der vielen chinesisch geprägten Vasen eine nahezu unbekannte Gegenkultur beleuchtet, die ihr Zentrum in Osaka hatte und die der dort lebende Shokosai bediente. Dort war im 17. Jahrhundert eine Teezeremonie entstanden, die den Tee nicht mehr pulverisiert wie in der chanoyu-Teezeremonie verwendete. Stattdessen brühte man den Tee nach chinesischem Vorbild mit Sencha-Blättern auf. Eine Petitesse? Nein, ein Unterschied ums Ganze, der verbunden war mit einer Kritik an der hierarchisch-durchorganisierten und unfreien Gesellschaft der japanischen Militäraristokratie.
Aber noch eine andere Welt bricht in Shokosais Werk ein: der Okzident. Davon zeugt ein Bowler, den Shokosai geflochten hat. Tragisch wirkt dieser Hut aus dunklen Bambushalmen inmitten all der Vasen. Tragisch, weil er vorausdeutet auf eine Katastrophe. 1868 erzwangen die Amerikaner mit Kanonenbooten die Öffnung des Landes, das sich drei Jahrhunderte lang radikal abgeschottet hatte. Angesichts der technischen, wirtschaftlichen und ökonomischen Übermacht des Westens flüchtete sich Japan später in einen übersteigerten Anpassungsprozess, der eine Entfremdung von der eigenen Kultur mit sich brachte und als Backlash einen im Weltkrieg endenden militaristischen Nationalismus. Die Kunst hatte einen anderen Weg gewiesen. Nicht den ökonomisch-militärischen Wettkampf, sondern Austausch und Anverwandlung, wie sie in Shokosei Vasen und seinem Bowler zum Ausdruck kommen. Eine ähnliche Motivation hatte auch Justus Brinkmann angetrieben, als er die japanischen Kunstwerke nach Hamburg bringen ließ.
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