Stadttheater-Intendant: Frischer Wind in Bremerhaven
Ulrich Mokrusch ist seit Sommer 2010 Intendant des Stadttheaters - und überzeugt das Publikum mit ästhetisch klaren, politisch dezidierten Inszenierungen. Und manchmal tingelt er durch die Stadt.
Nicht lange fackeln, das Publikum gleich radikal mit dem neuen Geist des Hauses konfrontieren: "Hier ist jetzt alles Differenz!" So erfrischend unbescheiden startete Ulrich Mokrusch, das Stadttheater-Dornröschen Bremerhavens wach zu küssen. Aus der 16-jährigen Ära seines Vorgänger-Prinzipalen Peter Grisebach gibt es bis auf den Generalmusikdirektor und die eher klassische Ballett-Sparte keine Übernahmen. 27 Neuproduktionen stehen auf dem Spielplan. Auch drei Viertel der Schauspieler sowie alle Regisseure und Bühnenbildner wurden neu engagiert und erstmals Stellen für Marketing und Theaterpädagogik geschaffen.
Das neue Team wirbelte gleich zu Saisonbeginn den Muff der 80er Jahre durcheinander, für den das Haus einst so geliebt wie verachtet wurde. "Alles öffnen, Luft!", gab Mokrusch als Motto an seine 230 Mitarbeiter aus. Seither werden vom Publikum bisher fast unbekannte Angebote begeistert angenommen: Stückeinführungen, Nachgespräche, Probenbesuche, öffentliche Premierenfeiern und lockere Late-Night-Formate.
Als künstlerisches Bekenntnis kamen die Eröffnungsproduktionen daher: Die Ödipus-Tragödie, Ilija Trojanows "Die Welt ist groß und Rettung lauert überall" und Benjamin Brittens "Peter Grimes"-Oper waren inhaltlich klare, ästhetisch moderne, politisch Position beziehende, Schauspieler und Sänger als Ensemble feiernde Inszenierungen. Für Bremerhaven eine Sensation. "Aber ich habe nur drei Beschwerdebriefe bekommen", sagt Mokrusch.
Mit "Läuft ja super"-Glückwünschen wurde er auf den Neujahrsempfängen der Stadt fast erstickt. Das Publikum liebt sein Stadttheater einfach bedingungslos weiter, fühlt sich nicht abgestoßen, sondern angeregt: Von September bis einschließlich Dezember 2010 wurden in insgesamt 248 Veranstaltungen 64.440 Besucher gezählt, was einer Auslastung im Großen Haus von 83 Prozent, im Kleinen Haus von 93 Prozent entspricht. Das ist eine Steigerung um 10.000 Besucher und damit um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr, der pompösen Abschiedssaison Grisebachs, der heute Generalintendant des schleswig-holsteinischen Landestheaters ist.
Besonders stolz ist man in Bremerhaven, dass die Zahl der Kinder und jugendlichen Besucher von 20.848 auf 25.986 stieg. Und so soll es weitergehen - mit 100 Vorstellungen und 10.000 Besuchern pro Saison zusätzlich. Denn es bestehen kaum noch Zweifel: Mokrusch wird den Bremerhavenern zum 100. Geburtstag ihres Theaters in der nächsten Spielzeit ein eigene Kinder- und Jugendtheater-Sparte schenken.
Um das Projekt im Kulturzentrum "Pferdestall" zumindest drei Jahre lang zu betreiben, werden 600.000 Euro extern eingeworben. Kein Cent muss aus dem festgezurrten 12,8-Millionen-Etat genommen werden, den die Stadt mit 11,2 Millionen subventioniert - obwohl die Hälfte des Publikums aus dem niedersächsischen Umland anreist. Und der Intendant netzwerkt weiter: keine Feier ohne Mokrusch. Wenn Wirtschaftsverbände, Bildungsträger, Landfrauen oder DRK-Damen laden, wirbt der Intendant für neue Ideen. Mit der Bürgerstiftung hat er so nebenbei Geld für 1.000 Eintrittskarten gesammelt, die jetzt von Bremerhavener Pastoren kostenlos an Menschen verteilt werden, die sich Theater sonst nicht leisten können.
Der 47-Jährige war zuletzt Stellvertreter der Generalintendantin des Nationaltheaters Mannheims.
Ein neuer Typ von Intendant: ausgebildet an der Pariser École Jacques Lecoq, dann in Neuss Mitglied des Schauspiel-Ensembles, nebenher Kulturmanagement studiert, ins Regiefach gewechselt, nebenher Betriebswirtschaft studiert, Inszenierungen dramaturgisch begleitet und als Unternehmensberater gearbeitet.
Das Theater versteht er genauso als Kunstproduzenten wie als mittelständisches Unternehmen.
Theater für die Stadt machen, heißt aber auch: raus aus dem Theater, rein in die Stadt. Und wenn du schon Gutes tust, rede auch laut drüber. Üppig präsentiert von der örtlichen Tageszeitung hatten Theatermitarbeiter adventskalendermäßig jeden Tag im Dezember ein Leckerli spendiert: Mokrusch spielte Heiligabend Weihnachtslieder zur Gitarre in der Kinderklinik, las auch Sherlock-Holmes-Geschichten vor 70 Knackis der JVA Bremerhaven. Theaterschlosser zogen los, um Spielgeräte in Kindergärten zu reparieren, und der 1. Kapellmeister besuchte mit E-Piano und dem Cavaradossi-Tenor ("Tosca") im Gepäck eine MS-kranke Frau für ein Hauskonzert.
Grundsätzlich soll auch jede fünfte der regulären 500 Aufführungen bis Saisonende außerhalb des Stammhauses stattgefunden haben. Als Vorgeschmack war jetzt "Die Entdeckung der Langsamkeit" im Schifffahrtsmuseum zu erleben. Ein maritim gewandeter Mime erzählt Sten Nadolnys zivilisationskritischen Seefahrerroman als historische Aussteigergeschichte, allerdings ohne in Dialog mit den Exponaten zu treten. Regisseurin Ulrike Stöck findet keine Art von Adagio-Ästhetik, um Nadolnys 11. Gebot zu übersetzen, das da lautet: Du sollst entschleunigen.
Vielversprechender ist da ab Mai Kafkas "Amerika" im Auswandererhaus. Lukas Matthaei porträtiert Migranten Bremerhavens im leer stehenden Nordseehotel und das genreübergreifende Festival "Odyssee : Heimat" soll städtische Räume theatralisieren. Konzerte finden umsonst und draußen als "soziale Intervention" statt.
An Bremerhaven reizt Mokrusch der erzwungene Strukturwandel. Nach dem Niedergang als Fischereihafen, dem Werften-Sterben und Abzug der US-Soldaten war die Stadt wirtschaftlich am Ende, lebt heute von Seegüterumschlag, ist Standort für Technologie, Forschung und Städtetourismus. Mit einer Milliarde verschuldet, dafür aber mit touristischen Highlights ausgestattet, von denen Bremen nur träumen kann: die Havenwelten mit Zoo am Meer, "Schifffahrtsmuseum", Auswanderer- und Klimahaus - sowie sportlicherseits Erstliga-Basketball, Zweitliga-Eishockey und Tanzsport-Weltspitze.
"Eine Stadt im Aufbruch, sie erfindet sich neu", da erfindet Mokrusch gern mit: seine Art von modernem Stadttheater. Auf das Bremer neugierig schauen: Folgten sie zu Grisebachs Zeiten den Verlockungen von kostümprächtigen Operettenspäßen, Belcanto-Festen und Musical-Prunk, wird jetzt der künstlerische Aufbruchswille und die Marketingpfiffigkeit bewundert. Im Land Bremen ist Schillers "Maria Stuart" in diesem Frühjahr Abiturstoff. In der Stadt Bremen wird das ignoriert. Mokrusch lässt den Klassiker inszenieren, Bremerhavener Oberschüler füllen das Parkett, jetzt rufen auch Bremer Lehrer an, wollen nicht lange fackeln, Theaterausflüge organisieren - und werden junges Publikum mit dem neuen Geist des Hauses infizieren.
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