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Historikerin über gepanschte Lebensmittel"Skandale machen das Essen besser"

Gips im Mehl, Hirn in der Milch – Vera Hierholzer forscht zur Geschichte der Lebensmittelskandale.

Skandalnudel oder Nudelskandal? Bild: miss x/photocase.com
Martin Rank
Interview von Martin Rank

taz: Frau Hierholzer, nach den letzten Lebensmittelskandalen gilt das Ei von Nachbars Huhn als sicherer als das mehrfach geprüfte aus dem Supermarkt. Ist das irrational?

Vera Hierholzer: Dahinter steckt die Angst, nicht zu wissen, was in der Nahrung steckt - ein ganz altes Phänomen. Aber eigentlich ist die Aufregung eher ein Zeichen dafür, was für hohe Qualität wir bei Nahrungsmitteln aus dem Handel gewohnt sind.

Wie bitte?

Wenn man in langen Zeitlinien denkt, wird unser Essen immer besser. Ich erforsche die Phase, in der die Menschen aufhörten, sich selbst zu versorgen: den Beginn industrialisierter Lebensmittel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Insgesamt wurde die Ernährung so reichhaltiger und vielfältiger, besonders was die Versorgung der breiten Bevölkerung betrifft. Die letzte große Hungerkrise in Deutschland war vorher, um 1840.

Waren die Ängste damals die gleichen wie heute?

Zumindest gab es bereits in den 1870er Jahren ähnlich emotionale Debatten über die schlechte Qualität von Lebensmitteln. Die Autoren in den Zeitungen fragten, ob es überhaupt noch etwas gebe, das nicht gepanscht ist, und diskutierten darüber, wo man noch ehrliche Produzenten finden könne. Sie schimpften auf die kapitalistischen Unternehmer und warfen ihnen vor, in der Produktion gegen Ehrprinzipien zu verstoßen. Auch Forderungen an den Staat wurden laut.

Wie sahen die Lebensmittelskandale vor 150 Jahren aus?

Schon vor der Industrialisierung wurde gestreckt und gepanscht, um einen besseren Preis zu erzielen. So kam Gips oder Kalk in das Mehl. Die Säuglingssterblichkeit war hoch, weil kaum Milch in hoher Qualität zu bekommen war. Sie wurde mit Wasser verdünnt, für Konsistenz und Farbe wurde dann wieder Mehl zugesetzt. Wenn man den Quellen glaubt, wurde dafür auch Hirn genutzt. Jeder Zwischenhändler hat da ein bisschen weiter gestreckt.

Also stand industrielle Herstellung nicht für mehr Sicherheit?

Zu Beginn nicht. Die Konservendosen zum Beispiel, die zum Symbol für die neue Nahrungsmittelindustrie wurdenm, waren berüchtigt, besonders die aus den USA. Die Sterilisationsverfahren waren noch mangelhaft, sodass Keime nicht richtig abgetötet wurden. So soll es auch zu Todesfällen gekommen sein.

Auf Skandale folgen heute Qualitätsoffensiven - damals auch schon?

In den 1870er Jahren entstanden auch die ersten Grenzwerte für Lebensmittel, 1879 das erste Nahrungsmittelregulierungsgesetz. Schon vorher bildete sich langsam die Nahrungsmittelchemie als eigenes Fach heraus. Die Forscher verfeinerten die Analyse immer mehr und konnten so Verfälschungen feststellen. Die Lebensmittelhersteller griffen das auf und warben mit Qualitätsversprechen.

Waren deshalb auch Lebensmittel die ersten Markenprodukte?

Die Hersteller versuchen auf diese Weise, das Vertrauen zurückzugewinnen. Marken wie Dr. Oetker und Maggi entstanden in den 1870er und 1880er Jahren. Der Verbraucher wusste damit, welche Firma genau dahintersteckt, und konnte sanktionieren, wenn es Probleme gab.

Mit großen Marken und einer mächtigen Lebensmittelindustrie verbinden Konsumenten heute trotzdem die Befürchtung, an der Nase herumgeführt zu werden.

Aber Kampagnen von Branchenführern bewirken nicht immer, was sie sollten. Zum Beispiel geriet Margarine, die 1860 erfunden wurde, zwar früh in Verruf, ein minderwertiges Produkt zu sein, weil Butterproduzenten gegen den Konkurrenten Gerüchte in die Welt setzen, etwa dass in der Margarineherstellung Abdeckereifette eingesetzt würden.

Klingt doch nach erfolgreichem Schmutzmarketing.

Aber es war kontraproduktiv: Die Politik wurde aktiv und verabschiedete in den 1880er Jahren strenge Margarinegesetze, die die Produktion reglementierten. Dadurch vertrauten immer mehr Konsumenten dem neuen Fett. Die Hersteller mussten Margarine mit einem roten Streifen verpacken, damit sie sich deutlich von der guten Kuhbutter abhebt. Aber so wurde die Margarine im Handel erst richtig sichtbar.

taz
Im Interview: 

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Müll im Essen

Kalk in der Schokolade: Eines der ersten Industrielebensmittel, das gepanscht wurde, war Schokolade. Sie geriet Mitte des 19. Jahrhunderts in Verruf, weil Produzenten, um mit der billigen Konkurrenz aus dem Ausland mithalten zu können, die Süßigkeit mit Kalk, roter Erde und Industriefetten streckten.

Gammelfleisch in der Sülze: Der Lebensmittelskandal, der am stärksten eskalierte, war 1919 der Hamburger Sülzeaufstand. Die Bevölkerung empörte sich darüber, dass verfaulte Kadaver als Sülze verkauft wurden, und stürmte den Betrieb eines Sülzeproduzenten. Die Reichswehr griff ein und beendete den Protest, mehrere Menschen starben durch die Schießereien.

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Vera Hierholzer

Die Historikerin, Jahrgang 1977, forscht an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main unter anderem zur Konsum- und Ernährungsgeschichte. Ihre Doktorarbeit schrieb sie über die Regulierung von Nahrungsmittelqualität während der Industrialisierung.

Wer konnte sich geprüfte Markenprodukte damals leisten?

Es war vor allem das Bürgertum, das sich mit der Qualität von Lebensmitteln befasste. Arbeiter mussten zu Beginn der Industrialisierung fast ihren gesamten Lohn für Essen ausgeben. Produkte wie Maggie oder Fleischextrakt waren für sie gedacht, aber die Produktion war zu teuer. Arbeiter mussten beim Handel oft anschreiben lassen. Und da der Händler nicht wusste, ob er das Geld je bekam, hat er ihnen bewusst schlechtere Ware untergeschoben.

Also ist Jammern ein Zeichen für Luxus?

Um die Qualität kümmert man sich, wenn die Versorgung gesichert ist. Das sieht man im Ersten Weltkrieg gut: In dem Moment, in dem Lebensmittel knapp werden, spielt Qualitätssicherung kaum noch eine Rolle.

Aber dass vor 200 Jahren Gips im Mehl war, ist doch kein Grund, jetzt Giftspuren in Eiern zu akzeptieren.

Nein, ich will auch nichts verharmlosen. Ich denke schon, dass wir ein Problem haben: Es gibt Unternehmen, die die Distanz zum Verbraucher ausnutzen und panschen. Aber die Ernährung für die breite Bevölkerung ist heute so abwechselungsreich und gut wie noch nie. Und in dieser Beziehung haben Lebensmittelskandale ihren Sinn: Sie führen langfristig dazu, dass Lebensmittel besser werden.

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5 Kommentare

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  • T
    Thomas

    Thema verfehlt! Heutige Lebensmittelskandale betreffen wesentlich mehr Menschen mit einem Schlag, mit ungleich heimtückischeren und schwerer nachweisbaren Schadstoffen (hormonaktive Substanzen etc. pp). "Skandale machen das Essen besser"? Super Konzept. Lasst uns mehr Skandale haben. Dieses Rumrelativieren ist so Nullerjahre. Wir haben heutzutage ALLE Mittel und Möglichkeiten, um gesunde Nahrungsmittel zu produzieren. Warum tun wir es nicht einfach, bzw. sorgen dafür dass es der Gesetzgeber tut.

  • CR
    Christa Rust

    Bequemlichkeit ist die Mutter aller Erfindungen.

    Viele haben die Welt und das alltägliche Leben verändert und große Erleichterungen für die Menschen

    gebracht. Wo viel Licht, ist auch viel Schatten und

    so sind Betrüger Entwicklungen immer dicht auf den Fersen gefolgt,um mit immer raffinierteren Methoden

    Gutgläubige zu täuschen oder Notlagen auszunutzen.

    Im Internetzeitalter werden Nutzer noch gläserner

    und öffnen Betrügern Tür und Tor für ihr Treiben,

    andererseits können Despoten aus dem Tempel gejagt

    und Systeme zu Fall gebracht werden.

    Betrügereien im Nahrungsmittelbereich sind abscheu-

    lich und ekelhaft, weil mit der Gesundheit von

    Verbrauchern Schindluder getrieben wird, um sich persönlich zu bereichern. Da sich die Skandale zu-

    nehmend häufen, sollte man daraus Lehren ziehen und

    Qualität der Bequemlichkeit Vorzug geben.

  • M
    Melmich

    Heute muss nichts mehr gestreckt und gepanscht werden. Es werden Heute ganze Bestandteile weggelassen, das was am Ende bleibt, ist die Dessertsoße mit Vanillegeschmack.

     

    Natur raus, Aroma rein

  • N
    Nora

    Ich kann mich der romantisierenden Darstellung nicht anschließen.

     

    Die verarbeiteten Nahrungsmittel sind heute so denaturiert wie damals (1890) noch nicht. Beispiel Kuhmilch: heute industriell zerlegt und unter Weglassung bestimmter unerwünschter Anteile wieder und in anderer molekularer Form zusammengesetzt. Die Verarbeitungsprozesse sind viel komplexer geworden, ohne daß der Konsument dies Geschehen unmittelbar spürt und er daher auch keine Langzeitfolgen wahrhaben will.

     

    Bestes Beispiel für schlechte industrielle Ernährung sind die rapide gestiegenen Krebsraten, u.a. bei Kindern.

     

    Was ich besonders schlimm finde, ist, dass die Bioindustrie im Ganzen den gleichen Weg der qualitativen Aushöhlung und Entwertung von Nahrungsmitteln durch übermäßige Verarbeitung geht, obwohl der Anspruch der bäuerlichen Ökopioniere einst ein ganz anderer war. Man spürt schon heute sehr deutlich die kapitalistische Dynamik des Marktes derart, daß ernährungsphysiologische, qualitative Grundanforderungen an das Produkt aufgeweicht und mittels Produktionstechnik umgangen werden. Aus Kostengründen aufgrund intensiven Wettbewerbs oder aus purem Renditestreben heraus. Auch hier fallen Profitraten und deshalb müssen Kosten sinken, es sei denn, man schafft unter Ausschluß der Industrielobbies unumgängliche und rechtsverbindliche Qualitätsstandards auch in der Sphäre der Lebensmittelverarbeitung und der Distribution - wie seinerzeit punktuell durch Margarinegesetze.

    Das setzt eine neue soziale Bürgerbewegung voraus, die nicht bei den Bio-Gärtnern, sondern bei den Verarbeitern und Großhändlern ansetzt und dort ihre Forderungen einbringt. Und es braucht natürlich eine Instanz, die daraus transparente und effiziente Rechtsnormen formt.

     

    Jeder neue Dioxinskandal beweist die Notwendigkeit eines derartigen politischen Prozesses.

     

    Am Vorhandensein kapitalistischer Marktdynamik kann man ohne weiteres nichts ändern, aber man kann sie in gesundheits- und umweltverträgliche Bahnen lenken. Das ist der grundlegende Sinn jeder Regulierung, auch auf europäischer Ebene, und das muß endlich angepackt werden.

  • V
    vic

    Man kann nicht nur Lebensmittelverunreinigungen besser nachweisen, man kann sie auch besser verunreinigen.

    Es ist wie beim Doping; verbesserten Nachweismethoden folgen bessere Dopingverfahren, bzw. letztere sind bereits in der Warteschleife.