Reverse Graffiti: Putzmittel statt Spraydose
Aus Schmutz wird Kunst: Beim Reverse Graffiti wird dreckiger Beton zur Leinwand für flüchtige Kunstwerke. Als Werkzeug dient auch schon mal eine Zahnbürste.
An einer dreckigen Hauswand mitten in Frankfurt am Main klebt ein Stück Tapete. Davor stehen zwei junge Männer mit Zahnbürsten in der Hand. Angestrengt schrubben sie immer wieder über die verschmutzte Wand. "Macht ihr hier sauber, oder was?", ruft ein vorbeilaufender älterer Herr, als er die beiden entdeckt. "Wie man's nimmt, Meister, wir machen Kunst", antwortet einer der beiden beiläufig und ohne sich umzudrehen. Interessiert bleibt der Mann stehen.
Eine der beiden Künstler holt ein weiteres Stück nasser Tapete aus einem Eimer, aus der die Form eines Vogels ausgeschnitten ist. Und bremst seinen Kollegen: "Ist gut, ist gut! Der Kontrast ist doch schon da, du reibst noch die Wand durch!" Als sie die neue Schablone an die Wand kleben und die alte entfernen, lässt sich schon ein Bild erkennen: Ein knapp 50 Zentimeter großer Baum aus sauberem Beton prangt auf der verdreckten Hauswand. Der ältere Herr lacht.
Die beiden jungen Männer sind Michael Röderig und Marcellus Stephan, 19 und 21 Jahre alt und Anhänger einer Kunstform die vor knapp fünf Jahren in Großbritannien entstanden ist: Reverse Graffiti. Die Idee dahinter ist so simpel wie genial: Eine verschmutzte Oberfläche wird teilweise gereinigt, sodass durch den Kontrast von schmutzig und sauber ein Bild entsteht. Ob mit Hochdruckreiniger und Schablone, Freihand, mit einem feuchten Tuch oder einfach mit dem Finger auf der dreckigen Heckscheibe eines Autos - anders als beim traditionellen Graffiti sind beim Reverse Graffiti, je nach Untergrund und Verschmutzungsgrad, der Fantasie keine Grenzen gesetzt.
Michael und Marcellus arbeiten mit selbstgebauten Schablonen aus Tapete und schwören zum Reinigen der Fläche auf Zahnbürsten und gewöhnlichen Haushaltsreiniger. "Die Wände hier sind wirklich dreckig, da brauchst du keine giftige Chemielauge um einen Kontrast zu bekommen", sagt Michael. Mit Teppichmessern schneiden sie Muster aus vorgeleimter Tapete, die sie dann solange mit Klebeband an einer dreckigen Wand fixieren, bis sie mit den Zahnbürsten den gewünschten Kontrast frei geschrubbt haben.
Wie die meisten aus der Szene kommen die beiden ursprünglich vom traditionellen Graffiti. Umgestiegen seien sie vor allem aus einem Grund: "Wir hatten beide schon mehrere Anzeigen wegen Sachbeschädigung und mussten hohe Geldstrafen zahlen", sagt der 21-jährige Marcellus. Dieses Problem hätten sie beim Reverse Graffiti nicht mehr. "Wir machen nichts kaputt und unsere Bilder verschwinden nach einer Zeit von ganz alleine. Das ist vollkommen legal", erklärt er.
Neben dem Luxus, sein Hobby legal ausüben zu dürfen, geht es Paul "Moose" Curtis, dem Gründer der Kunstform, vor allem darum, eine Botschaft zu vermitteln: "Bei Reverse Grafitti geht es in erster Linie um die Umwelt. Den Leuten soll ein Spiegel vorgehalten werden", so Curtis. Mit der Kunstform solle den Menschen gezeigt werden, wie sehr sie durch ihren Lebensstil die Umwelt und ihren eigenen Lebensraum verschmutzen.
Den beiden Frankfurter Künstlern geht es bei ihren Graffitis weder um die Umwelt noch um Nachhaltigkeit: "Wenn ich etwas Gutes für die Umwelt tun möchte, fahre ich lieber mit dem Fahrrad zur Arbeit, anstatt Bilder auf Wände zu schrubben", sagt Michael. Mit ihren Graffitis wollten sie niemanden zum Nachdenken anregen. Sie möchten "einfach nur Kunst machen und den Menschen ihren Alltag ein Stückchen versüßen", ergänzt Marcellus.
Dies scheint ihnen bei ihrem neuen Kunstwerk wieder gelungen zu sein. Zumindest haben sie in dem älteren Herrn einen neuen Fan gewonnen. "Ihr könnt gern morgen auch bei mir zuhause vorbei kommen und auch so ein Bild an die Wand malen", sagt er, während er das Graffiti von nahem betrachtet. Doch noch bevor die beiden antworten können, macht er einen Rückzieher: "Obwohl, lieber nicht. Sonst sehen noch alle Nachbarn, wie dreckig mein Haus eigentlich ist." Diesmal sind es Michael und Marcellus, die lachen.
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