Pfefferspray-Einsatz vor Gericht: Nebulöse Schein-Erinnerungen

Hamburger Landgericht spricht 26-Jährigen vom Vorwurf frei, 13 Polizisten mit Reizgas verletzt zu haben. Zivile Tatbeobachter hatten Abenteuerliches berichtet.

Wer versprühte Pfefferspray? Schanzenfest-Krawalle im Juni 2009. Bild: dpa

HAMBURG taz | Der Vorwurf war schwerwiegend: Bei den Schanzenfest-Krawallen am 5. Juni 2009 sollte der 26-jährige Michael W. 13 Polizisten mit Pfefferspray verletzt haben, die die Festnahme eines Flaschenwerfers in einem Croque-Laden in der Schanzenstraße absicherten. Das jedenfalls behaupteten zwei Zivilfahnder. Nach sechs Verhandlungstagen hob das Landgericht die Verurteilung Ws. wegen Körperverletzung aus erster Instanz auf und sprach ihn frei. "Es gab zu viele Widersprüche", begründete die Vorsitzende Richterin Ute Barrelet den Freispruch. "Das passt alles nicht zusammen."

Die "verdeckten Tatbeobachter" Florian S. und Franziska M. einer Eutiner Beweissicherungs- und Festnahme-Einheit (BFE) wollten gesehen haben, wie W. den Beamten der Polizeikette, die ihre Helm-Visiere offen hatten, "eine Nebelwolke direkt ins Gesicht sprühte". Danach sei der "Nebelmann" zu einem Paar auf der anderen Straßenseite gegangen, wo er "beglückwünscht und angespornt" worden sei. Daraufhin habe er eine weitere Sprühdose aus dem Rucksack von Katrin B. genommen und habe erneut die noch benommenen Polizisten besprüht, so die Zivilfahnder. Sie hätten alles genau gesehen, da nur wenige Personen auf der Straße gewesen wären und hätten sich danach bis zu seiner Verhaftungen an W.s Fersen geheftet.

"Das einzige, was mit den Tatsachen übereinstimmt, ist der Griff in den Rucksack, um die Spraydose herauszunehmen", sagte Verteidiger Andreas Beuth in seinem Plädoyer. Michael W. hatte tatsächlich eine Erste-Hilfe Spraydose aus B.s Rucksack genommen. "Ansonsten haben sich die beiden Beamten entweder kollektiv geirrt oder bewusst die Unwahrheit gesagt."

Denn ihre Aussagen deckten sich nicht mit den Angaben, die die verletzten Polizisten der Hamburger Einheit gemacht hatten. Diese sprachen von einem "gezielten Spritzstrahl", der sie getroffene habe, nachdem sie selbst mit Pfefferspray gegen die "unüberschaubare Menge" vorgegangen seien, die aufgebracht gewesen war, weil der Polizist Jörn R. eine ältere Frau zu Boden geschubst hatte. Auch dass die BFE-Beamten ihre Visiere offen gehabt hätten, wiesen die Beamten energisch zurück - das käme ja bei Schanzenfest-Krawallen dem Dilettantismus gleich.

Entscheidend war jedoch ein Videofilm von dem Vorfall. Während das zivile Tatbeobachter-Paar die Dauer der Ereignisse auf zweieinhalb bis drei Minuten taxierten - in erster Instanz sogar von zehn Minuten sprachen - dauerte der Vorgang gerade mal 35 Sekunden. Deshalb ließ Richterin Barrelet die beschriebenen Vorgänge von S. und M. von den Prozessbeteiligten im Gerichtssaal rekonstruieren. In der Tat hätten die von den Tatbeobachtern beschriebenen Handlungen von Michael W. mindestens zweieinhalb Minuten gedauert, ergab das Rollenspiel. "Man hätte viele Widersprüche wegdiskutieren können", sagte Richterin Barrelet in der Urteilsbegründung, "aber was man nicht mehr wegdiskutieren kann, ist das Video."

Auch die Staatsanwältin Monika Macheit plädierte auf Freispruch, versuchte jedoch noch die Ehrenrettung ihrer beiden Kronzeugen. "Ich bin mir sicher, dass sie nicht bewusst gelogen haben", so Macheit, "aber das hilft nicht die unerklärlichen Widersprüche zu erklären." Die beiden verdeckten Tatbeobachter hätten sich wohl in "Schein-Erinnerungen" verfangen.

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