Einführung der Grundschrift: Keine pädagogischen Interessen
Die Marketingkampagne des Grundschulverbandes für die neue Grundschrift läuft an. Soll die flüssige Schreibschrift aus ökonomischen Gründen verschwinden?
Immer weniger Kinder entwickeln in der Grundschule eine Handschrift, die ihnen als Schulschrift, und dann in Ausbildung und Studium, in Privatleben und Beruf so nützt, wie es nötig ist. Jetzt endlich hat der Grundschulverband das Thema aufgegriffen und verspricht uns, das Schriftelend mit seinem Projekt "Grundschrift" zu beenden.
Die zentrale Idee: Alle Kinder schreiben nur noch eine geradstehende Druckschrift aus einzelnen Buchstaben, die teilweise nahe zusammenrücken. Eine kursive Schreibschrift, in der alle Buchstaben eines Wortes verbunden werden, ist überflüssig. Die Frage: Ist das die richtige Idee?
Fünfzig TeilnehmerInnen waren am letzten Wochenende bei einer Konferenz in einem Hotel in Hannover versammelt, um das Konzept "Grundschrift" zu diskutieren. Der Grundschulverband hatte eingeladen. Ein Sponsor wurde nicht sichtbar. Die TeilnehmerInnen selbst oder die Institutionen, in der sie mit Kindern direkt oder für Aus- und Fortbildung von deren LehrerInnen arbeiten, hatten reichlich dafür bezahlt. Das Engagement der vielen Frauen war beeindruckend. Sie wollten wirklich wissen, worauf es vor allem ankommt beim Schreibenlernen und -lehren und was sie selbst tun können, um es in gute Bahnen zu lenken.
Was sie erfahren konnten, war leider eher dürftig. Aber es ist anzunehmen, dass das vielen der eifrigen TeilnehmerInnen verborgen blieb. Zu komplex ist der Gegenstand Handschriftentwicklung. Zu dringend war der Wunsch, den Wildwuchs auf den Blättern und in den Heften der Kinder zu beenden, als dass sich Kritik am Konzept "Grundschrift" vorgewagt hätte. Dass das Konzept noch lange nicht ausgereift ist, wird man in der Praxis zu spät merken.
Überzeugt hat Lothar Bode, Rektor und Lehrer einer kleinen Grundschule auf dem Dorf mit nur 120 Kindern. Er sagt: "Ich bin Pionier." Lange vor Erfindung der "Grundschrift" hat er an seiner Schule die Kinder nur noch Druckschrift schreiben lassen. Den Hefteinträgen, die er vorlegt, sieht man vor allem eines an: Von Anfang an und durch alle Fächer und Grundschuljahre war dem Lehrer die Schrift der Kinder wichtig. Das macht den Unterschied! Nicht das Weglassen einer Schreibschrift.
Oder doch? Schon die Vorgänger der heutigen Druckschrift-Kinder in Bodes Dorf hatten eine Schreibschrift gelernt, die sich Buchstabe für Buchstabe gegen Verbindungen sperrt, die sogenannte Vereinfachte Ausgangsschrift. Sie will nicht flüssig werden. Und besonders heftig sperrt sich unser häufigster Buchstabe, das kleine e, als Köpfchen-e. PraktikerInnen und Eltern haben sich gegen die Einführung dieser Schrift gewehrt.
Zum zweiten Mal seit den 1970er Jahren soll in Deutschland eine neue Schrift in den Grundschulen Einzug halten. Damals war es die sogenannte Vereinfachte Ausgangsschrift, die für die Kinder den Übergang zur Schreibschrift nach Meinung aller Experten erschwerte. Was ist der Grund dafür?
Die renommierte Schreiblehrerin Ute Andresen beobachtet für die taz die Einführung auch der neuen Grundschrift - und kommt zu dem Schluss, dass didaktische Interessen höchstens an zweiter Stelle kommen. Es könnte vielmehr um die Interessen einer Lobby aus Industrie, Grundschulverband und Autoren in diesem Verband gehen. achtsam-schreiben-lernen.de
Meist vergebens! Der Grundschulverband hat sie durchgesetzt. Viele LehrerInnen haben seinen Argumenten für den vermeintlichen Fortschritt geglaubt, nicht gerade zum Wohle der Kinder. Das müsste der Verband erst einmal klarstellen, bevor er eine neue Schrift vorstellt. Er geht aber darüber hinweg und will einen neuen, unausgegorenen Fortschritt.
Vereinfachten Ausgangsschrift
Hinterfragt man das Scheitern vieler Kinder an der Vereinfachten Ausgangsschrift, wird deutlich, dass die eigentliche Wucht hinter ihrer Durchsetzung gar nicht aus pädagogisch-didaktischen Überlegungen kam. Es standen wirtschaftliche Interessen hinter. Bis zum Zeitpunkt ihrer Einführung mussten Texte in Schreibschrift für Bücher umständlich mit der Hand geschrieben und teuer reproduziert werden. Manche Buchstaben veränderten sich je nachdem, welcher Buchstabe ihnen vorausging oder folgte. Das war auch im Schreibunterricht der Kinder ein Extrakapitel.
In der Vereinfachten Ausgangsschrift gab es nun diese Komplikation nicht mehr. Alle Buchstaben endeten so, dass der nächste Buchstabe formstabil angesetzt wurde. Diese neue Schreibschrift konnte im Lichtsatz mit der Maschine getippt werden wie jede andere Satzschrift auch. Eine enorme Ersparnis für die Schulbuchverlage. Sie wurde garniert mit der Behauptung, die Formstabilität der Buchstaben sei ein Vorteil für die schreibenden Kinder. Tatsächlich erzog man sie zu ruckweisem Schreiben.
Die Vereinfachte Ausgangsschrift ist eine Schrift für die Maschine, nicht für das flüssige Schreiben mit der Hand! Die neue "Grundschrift" führt diese Logik weiter. Sie gibt sich erneut als Vereinfachung. Wieder soll sich eine flüssige Schrift aus der Aneinanderreihung von Einzelbuchstaben ergeben. Das ist kaum möglich. Es genügt nicht, das "Schreiben mit Schwung" zu beschwören, wie das Konzept "Grundschrift" es tut. Für viele Jungen besteht beim Schreiben die Hauptaufgabe auch gerade darin, ihre Bewegungen zu zügeln, den Schwung zu bremsen. Sie sollen zuerst Buchstaben und Verbindungen genau formen, um dann allmählich den Stift geschmeidig rascher zu bewegen.
Flüssig, elegant, selbstverständlich werden Schreibbewegungen von Kindern nicht dadurch, dass man ihnen - wie bei der Grundschrift - frühzeitig erlaubt, ihre Buchstaben eigenwillig zu schreiben. Nur lesbar muss da das Geschriebene sein, nicht auch schön aufgrund ausgereifter Form und rhythmischer Bewegung. Mit dieser vermeintlichen Großzügigkeit wird die Handschrift des Einzelnen in der Unbeholfenhheit festgehalten. Zu vermuten ist, dass der Verzicht auf eine verbundene Schrift aus einem Guss, wie es etwa die Schulausgangsschrift der DDR ist, eine wichtige Entwicklungsmöglichkeit versperrt: dass der Rhythmus des Schreibens den Gedanken trägt und Schreibweisen sich aus Bewegungsbildern ergeben, die in der Tiefe des Bewusstseins gespeichert sind.
Den Diskussionen zur "Grundschrift" in Hannover waren solche Überlegungen fremd, Sie bewegten sich nur an der Oberfläche des Schreibvorgangs. "Später schreibt niemand so rein, wie die Schule es wollte", hieß es immer wieder. "Im Wort werden nur zwei bis drei Buchstaben sichtbar verbunden. Warum also eine Schreibschrift lernen?" Es geht aber nicht nur um die Aneignung einer einigermaßen lesbaren Gebrauchsschrift! Wüsste man, welchen meditativen Atem Phasen gemeinsamen Schreibens von Schulausgangsschrift in den Schultag bringen können, würde man anderes als weniger wichtig erkennen und ihm den Weg in die Schule versperren.
"Jedes Kind lernt eigenaktiv lesen"
Aber heutige LehrerInnen haben meist selbst niemals einen vertiefenden Schreibunterricht erlebt, seine Wohltat nicht und nicht sein Ergebnis. Darum können sie nicht danach suchen. Und auch die Propagierer der Grundschrift wissen nichts davon. Sie wollen das auch nicht, denn sonst wankte ihr zentrales Dogma: Gut ist individualisiertes Lernen mit Karteien, Arbeitsblättern und -heften! Durch LehrerInnen angeleitetes Lernen in großer Gruppe, wie es ein unaufwendiger Schreibunterricht verlangt, ist Frontalunterricht - und schlecht.
Übersehen wird: In all dem vorgedruckten Arbeitsmaterial zum individualisierten Lernen stecken fremde, autoritäre Vorgaben, die für die einzelnen Lernenden blind sind. Das erzeugt Missmut, Nachlässigkeit und Widerstand beim Abarbeiten, nicht Lernbegeisterung. LehrerInnen vor der Klasse haben die Lernenden im Blick, erkennen, welche Schwierigkeiten eine Aufgabe mit sich bringt und stehen dafür ein, dass sie bewältigt werden können. Jetzt! Sie passen Erklärungen und Hilfen individuell an und zugleich halten sie die Lernenden so beisammen, dass Kinder mit wenig Mut und Kraft vom Können der Stärkeren ermutigt und gestützt werden.
Der unmittelbare Lohn für alle: die gemeinsame, stille, gesammelte Arbeit der individuellen Aneignung einer schönen, verbundenen Normschrift selbst. Ich will nicht Freiarbeit abschaffen, aber doch dringend mahnen: Wir müssen endlich unterscheiden, wann Individualisiertes sinnvoll ist und wann gemeinsames Lernen. Die Kinder brauchen beides - in stets neuer Balance.
"Jedes Kind lernt eigenaktiv lesen, indem es Wörter und Sätze, die ihm wichtig sind, mit Hilfe einer Buchstabentabelle verschriftet." So lautet der zentrale Fortschritt, wie er in Hannover propagiert wurde, und er durfte nicht mehr in Frage gestellt werden. Zu wünschen ist, dass endlich ernstgenommen wird, dass unsere Grundschule ein Heer von Legasthenikern produziert. Wir müssen endlich fragen, ob und wie deren Elend durch falsche oder Einzelnen nicht angemessene Einführung in den Gebrauch der Schrift erzeugt wird. Damit kämen wir am besten voran, wenn jeder die Methode des Schriftspracherwerbs, die er selbst bevorzugt und am besten kennt, auf den Prüfstand stellt.
Zu befürchten ist, dass die Hersteller von Materialien für die Schule demnächst die Szene und das Tempo bei der Einführung der Grundschrift beherrschen werden. Sie können damit ja neue, zusätzliche Hefte und Materialien verkaufen und womöglich sogar Schulbuchinventar durch Neuanschaffungen ersetzen. Und sie können das Etikett "Grundschrift" mit ihren Produkten für das Schreibenlernen verbinden. Bei der Konferenz in Hannover waren auch Vertreterinnen von Schulbuchverlagen aufmerksame Zuhörer.
Was wisst ihr von der Grundschrift?
Pelikan, Standort Hannover, rühmt sich selbst auf seiner Homepage für das Jahr 1974, "gemeinsam mit Pädagogen" die VA entwickelt zu haben. "Dem Schulfüller Pelikano kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu", heißt es da. Bei der Hannoveraner Konferenz wurde merkwürdig ausgiebig ein Werbefilm für den ersten Patronenfüller, den blau-silbernen Pelikano gezeigt. Seit 2008 rühmt Pelikan sein neues, teures Schreiblernsystem, das mit vier verschiedenen, "aufeinander aufbauenden" Stiften und ebenso viel Schreiblernheften und allerlei Zubehör auf den Markt drängt.
Bei der Bildungsmesse Didacta befragte die Firma Pelikan Lehrer. Dabei sei es laut LehrerInnen auch um die Grundschrift gegangen: Was wisst ihr von der Grundschrift? Was haltet ihr davon? Was braucht ihr zur Erleichterung des Unterrichts? Pelikan verneinte auf Anfrage, dass ein spezielles Interesse an der Grundschrift bestehe.
Keine Überraschung wäre es, wenn neue Produkte den Weg in die Schule finden würden. Das würde die Schulbuch- und Lehrmittelindustrie ebenso wie die Autoren der neuen Grundschrift freuen. Die Verquickungen der Vergangenheit rings um den Schreibunterricht der Kinder mahnen uns: Lasst euch nichts aufschwatzen! Tafel, Kreide und Griffel, ein guter Bleistift und ein leeres Heft genügen, damit Kinder ihre Buchstaben sicher lernen - wenn da nur Lehrer sind, die ihre Aufgabe als Schreibmeister wahrnehmen.
Die Autorin ist Schreiblehrerin. Sie hat eine handgeschriebene Druckschrift entwickelt, aus der sich eine flüssige Schreibschrift ableitet.
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