die wahrheit: Der Norden ist der Osten des Westens

Nehmen wir mal an, es gibt einen neuen Konditor in der Stadt, der seine Waren überschwänglich anpreist...

...Reklame gehört nun mal zum Geschäft, denkt man sich und kauft deshalb dort probeweise Rumkugeln. Zu Hause aber bemerkt man gleich nach dem ersten Bissen, dass der Konditor nicht etwa Rum verwendet hat, sondern billigen Weinbrand, so dass die angeblichen Rumkugeln nicht nur entsetzlich schmecken, sondern schlicht eine Fälschung sind. Man würde sich beschweren und vermutlich nicht mehr bei einem solchen Pfuscher einkaufen, der sich auch noch selbst in den höchsten Tönen lobt.

Im Herbst 2010 wurde in Berlin die Nachrichtenagentur dapd gegründet, die aus dem Deutschen Depeschendienst (ddp) und dem deutschen Ableger der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press (AP) hervorging. Die neuen Besitzer tönten recht laut, dass man den Marktführer dpa "verzichtbar" machen wolle, auch juristisch wurden Konkurrenten sofort massiv angegangen. Allerdings produzierte man kurz nach der Neugründung eine Falschmeldung, als man irrtümlich die Nachricht verbreitete, die baden-württembergische Schraubenfirma Würth ziehe künftig in die Schweiz.

Kann ja mal passieren, ein bedauerlicher Fehler, geschuldet dem Zeitdruck im Arbeitsalltag, möchte man meinen. Aber war das tatsächlich eine Ausnahme? Sehen wir uns die Meldungen der Agentur dapd in den letzten Monaten einmal genauer an und greifen uns ein Gebiet als Beispiel heraus: die Topografie Berlins. Sind die Ortsangaben in den Lokalmeldungen aus der Hauptstadt korrekt?

"Bei einem Verkehrsunfall ist in Spandau ein Kind schwer verletzt worden. Der Fünfjährige wollte am Sonntagnachmittag die Residenzstraße überqueren", meldete dapd am 14. März 2011 und korrigierte sich wenig später, die Residenzstraße liege nicht in Spandau, sondern in Reinickendorf. Nur ein Flüchtigkeitsfehler, könnte man vermuten, wenn nicht dauernd ähnliche Meldungen von dapd unkorrigiert über die Ticker gingen.

Zur Berlinale berichtete dapd am 20. Januar 2011 über die Gießerei Noack, in der die Silbernen und Goldenen Bären hergestellt werden: "Erstmals in der Geschichte der Berlinale werden die Filmpreise des Festivals in Berlin-Charlottenburg gegossen …

Im Herbst 2010 hatte die Gießerei ihren seit 1899 bestehenden Stammsitz aufgegeben und zog aus Steglitz in einen Fabrikneubau Am Spreebord in Charlottenburg/Nord um." Richtig ist, dass die Gießerei Noack ihren Stammsitz mehr als ein Jahrhundert lang in Friedenau hatte, einem Stadtteil, der allerdings nicht zu Steglitz, sondern seit 1920 zu Schöneberg gehört.

Kann es sein, dass die Lokalredakteure von dapd keine Stadtpläne lesen können? Überhaupt hat man den Eindruck, dass bei dapd entweder Altostler arbeiten, die sich im Westen nicht auskennen, oder Nachwuchsredakteure, für die alles Mitte ist. Mitte ist in und hip und der Ort, an dessen Grenzen jener Tellerrand beginnt, über den sie nicht hinausschauen wollen. Deshalb ziehen sie Mitte wie ein Kondom über ganz Berlin.

"Bäckerei in Mitte mit Waffen überfallen", heißt es am 2. März 2011 bei dapd: "Mit zwei Schusswaffen und einer Eisenstange haben drei Männer eine Bäckerei in Gesundbrunnen überfallen." Gesundbrunnen aber liegt nicht in Mitte, sondern im Wedding, dem gar nicht mittigen Arbeiterviertel im Norden Berlins. "Zwei Autoknacker sind am Sonntagabend in Berlin-Mitte noch im Auto festgenommen worden", meldete dapd am 28. März 2011. "Schließlich machten sich der 18- und 20-Jährige an einem Pkw in der Quitzowstraße zu schaffen." Die Quitzowstraße aber liegt wieder nicht in Mitte, sondern im nördlich gelegenen Moabit. Ja, ist denn der Norden der Osten des Westens?

Seit Berlin im Jahr 2001 in zwölf neue Bezirke aufgeteilt wurde, ist für Nichtkenner der Stadt alles eine Soße, die Mitte heißt. Zwar wurde der zentrale Bezirk Mitte nach der geopolitischen Neuordnung zum Namensgeber für die fünf vereinigten Stadtteile Wedding, Gesundbrunnen, Moabit, Tiergarten und Mitte, aber der platten Gleichmacherei stehen die historischen, sprachlichen und mentalitätsgeschichtlichen Unterschiede Berlins gegenüber.

Besonders absurd wirkt es dann, wenn eine Straße aus der westlichen Innenstadt in den Osten verlegt wird: "Zwei Beamte wollten am Montagnachmittag ein Auto in der Lützowstraße in Mitte anhalten, um die dort angebrachten Kurzzeitkennzeichen zu überprüfen", meldete dapd am 8. Februar 2011. Die Lützowstraße aber liegt im Stadtteil Tiergarten und wird hier vom britischen in den sowjetischen Sektor, von West- nach Ostberlin verschoben.

Offensichtlich gibt es bei dapd nicht den Hauch einer historischen Ahnung, sondern vielmehr eine hausinterne Regelung, dass bei einer Ortsangabe nur der Bezirksname verwendet wird, nicht der Name des Stadtteils. Was jedoch ein feiner, aber wesentlicher Unterschied für Berliner ist.

Denn bereits Kurt Tucholsky wusste, dass es wichtigere Dinge gibt als politische oder postalische Grenzen innerhalb Berlins: "Berlin S arbeitet, Berlin N jeht uff Arbeet, Berlin O schuftet, Berlin W hat zu tun", schrieb Tucholsky unter seinem Pseudonym Peter Panter in einem Artikel der Weltbühne vom 13. Oktober 1925 in der Rubrik "Nationales".

Es ist eine Art Verschleierung des wahren Ortes, die besonders problematisch wird, wenn etwas in einem Doppelbezirk geschieht. Denn bei der letzten Verwaltungsreform 2001 wurden mehrere Altbezirke zusammengelegt, was unschöne Doppelnamen hervorbrachte: Kreuzberg- Friedrichshain oder Schöneberg-Tempelhof oder Charlottenburg-Wilmersdorf.

Da man sich bei dapd aber weder im einem noch im anderen auskennt, streicht man gern nach Lust und Laune einen der beiden Namensteile weg: "Ein Fußgänger ist bei einem Verkehrsunfall in Wilmersdorf schwer verletzt worden", meldete dapd am 8. März 2011: "Der 22-Jährige überquerte am Montagabend die Suarezstraße und wurde von einem abbiegenden Auto erfasst." Die Suarezstraße aber liegt nicht in Wilmersdorf, sondern in Charlottenburg.

Man mag solch eine topografische Kritik für kleinlich oder antiquiert halten. Aber wenn eine Agentur antritt und sich selbst auch noch in den Himmel über Berlin lobt, dann kann man von ihr zumindest einen korrekten Umgang mit der Topografie der Stadt erwarten. Das Kapital einer Agentur ist das Vertrauen ihrer Kunden, also der Medien, die von ihr Nachrichten als Ware beziehen. Zwar werden auch in den belieferten Redaktionen die Meldungen längst nicht mehr sorgfältig bearbeitet, Ortsangaben nicht mehr überprüft, lieber wird nachlässig abgeschrieben.

Wenn aber schon im regional Kleinen die Daten nicht mehr stimmen, wie wird es erst sein, wenn größere, globalere Ereignisse eintreten? Und ist eine solche Schlampigkeit in Zeiten von Twitter und anderen schnellen Diensten im Internet nicht das Ende jedes professionellen Nachrichtenjournalismus, wenn man einer Agentur gegenüber grundsätzlich misstrauisch sein muss?

Dabei ist es doch alles ganz einfach. Die Neu-Nachrichtenagentur dapd muss nur einen Grundsatz beachten: Es ist nicht alles Mitte in Berlin.

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