Interview mit einem gehörlosen Bankberater: "Wir müssen Gebärden erfinden"
Robert Davis, selbst gehörlos, arbeitet als Bankberater für hörgeschädigte Kunden. Seine Gebärden für Begriffe wie "Riester-Rente" sind bisweilen sehr kreativ.
taz: Herr Davis, was war das letzte Geräusch, an das Sie sich erinnern können?
Robert Davis: Das war der Narkosearzt, der mich dazu aufforderte, bis zehn zu zählen. Als ich aufwachte, quatsche die Krankenschwester mit mir. Ich habe aber nichts mehr gehört.
Herr Davis, Sie haben Ihr Gehör mit 40 durch eine Krankheit verloren. Kam der Verlust plötzlich?
Es war ein schleichender Prozess. Nach einer Infektion wurde ich operiert und infolgedessen auf einem Ohr gehörlos, auf dem anderen ließ mein Hörvermögen immer mehr nach. Eines Tages stand ich vor dem Badezimmerspiegel und erschrak - denn ich blutete aus den Ohren. Nach einer weiteren Operation war ich vollständig taub.
Sie hören heute also überhaupt nichts mehr?
Durch meine Implantate bekomme ich einen Rieseninput an Informationen, die ich nicht verwerten kann. Ich nehme Hintergrundgeräusche wahr, weiß aber nicht, sind es schreiende Kinder oder vorbeirasende Autos. Die Stimmen, die ich jetzt wahrnehme, hören sich an wie die von Robotern oder von Micky Maus.
Robert Davis wurde 1959 auf einem britischen Militärstützpunkt geboren. Mit 21 Jahren zieht der Marinefunker nach Deutschland und wird Börsenmakler. Er arbeitet unter anderem für Merrill Lynch. 1999 verliert er trotz mehrerer Operationen sein Gehör. Seit 2007 berät der Brite bei der Commerzbank in Düsseldorf gehörlose und schwerhörige Kunden. Robert Davis ist unter (01 72) 2 94 74 48 oder Rob.Davis@commerzbank.com erreichbar.
Sie haben den Hörverlust zunächst gegenüber Ihrem Arbeitgeber versteckt. Warum?
Ich wurde langsam schwerbehindert und habe mich geschämt. Deswegen habe ich versucht, meinen Beruf so weiter auszuüben wie bisher. Ich hatte Angst, habe mein ganzes Leben an der Börse gearbeitet. Ich konnte mir schlicht nicht vorstellen, etwas anderes zu machen und meinen Job zu verlieren.
Wie konnten Sie den Hörverlust verbergen?
Ich hatte immer häufiger Probleme, die Zahlen am Telefon zu verstehen. Deswegen habe ich meinen Arbeitsplatz aufgerüstet, meine Telefone heimlich mit Verstärkern ausgestattet, immer seltener meine Kunden angerufen und bin auf E-Mail-Kommunikation ausgewichen. Aber ich hatte ständig Angst davor, Fehler zu machen. Ich habe täglich mit Millionenbeträgen gehandelt, und nachts lag ich dann wach, weil ich mir Sorgen machte, Zahlen verwechselt zu haben. Jeden Morgen, wenn ich den Bildschirm einschaltete, war ich schweißgebadet.
Auch Ihrer Familie haben Sie den Hörverlust verschwiegen. Warum?
Auch meiner Familie gegenüber habe ich mich zunächst geschämt. Ich wollte die Konfrontation nicht und dachte immer, es wird besser, es wird etwas passieren. Aber es passiert nichts. Ich spielte den gesunden Familienvater und Ehemann, der ich längst nicht mehr war. Wir haben uns viel gestritten zu dieser Zeit, weil ich den Eindruck hatte, dass ich von bestimmten Sachen nicht informiert wurde. Aber letztendlich hatte ich es einfach nicht gehört.
War dieses Versteckspiel nicht unglaublich stressig?
Es war Stress pur. Ich ging nicht mehr gern nach Hause oder zur Arbeit. Ich hatte immer Angst, entdeckt zu werden. Aber ich war in dieser Lügenspirale gefangen. Nachdem ich mich als Gehörloser geoutet habe, habe ich alle meine Freunde verloren. Diese Menschen sehe ich heute nicht mehr als Freunde.
Für immer in der Stille, wie gewöhnt man sich daran?
Es war ein Schock für mich. Ein Beispiel: Ich habe irgendwann bei uns im Haus einen Knall gespürt, und ich wusste, meine Enkel sind oben. Es war klar, dass etwas passiert war. Aber ich wusste nicht, wo es war, was passiert war und wo die Kinder waren. Diese Hilflosigkeit war am Anfang sehr schwer zu ertragen.
Und heute?
Aber heute finde ich es schön. Wenn ich Feierabend habe, bin ich offline. Ich muss nicht mehr den ganzen Krach um mich herum ertragen, keine gestressten Eltern und schreienden Kinder in der Weihnachtszeit hören. Ich habe meine völlige Ruhe und genieße das.
Wie sehr müssen Sie gegen Vorurteile kämpfen?
Das Leben als Gehörloser ist in Deutschland verdammt einsam, man wird immer wieder angestarrt und weggeschickt. Wenn ich in England oder den USA gebärde, wird damit ganz anders umgegangen. Auch in Schweden und in Finnland arbeiten viel mehr Gehörlosendolmetscher, und die Gebärdensprache ist dort als Amts- und Unterrichtssprache anerkannt. Aber hier werde ich ständig angestarrt, wenn ich gebärde. In Sachen Toleranz und Akzeptanz hinkt Deutschland noch weit hinterher. Einmal war ich im Zug mit einer Bekannten unterwegs. Wir unterhielten uns. Dann hat sich ein Geschäftsmann fürchterlich über uns aufgeregt, weil wir angeblich so laut waren. Ich kann ja meine Stimme nicht kontrollieren. Meine Bekannte ist in Tränen ausgebrochen. Mir wurde auch schon gesagt: "Na, zumindest sind Sie nicht blind." Solche Sätze machen mich wütend.
Sie arbeiten heute als Bankberater für hörgeschädigte Kunden bei der Commerzbank. Wie sehr hat sich Ihre Arbeit durch die Krankheit verändert?
Heute geht es nicht mehr nur ums Geld, sondern auch um eine Art Sozialberatung. Kunden kommen manchmal auf mich zu und benötigen Hilfe beim Autokauf oder der Arztsuche.
"Vermögenswirksame Leistung", "Abgeltungssteuer" - im Bankwesen gibt es viele Fachausdrücke, neue Begriffe wie "Riester-Rente" kommen ständig hinzu. Wie entstehen neue Gebärden für neue Wörter?
Für neue Wörter müssen wir die Gebärde erst erfinden, wir Gehörlosen müssen sehr kreativ sein. Mit meinen Kunden einige ich mich zunächst auf ein Zeichen, bevor die Gehörlosengemeinde sich auf eine Gebärde einigt. Aber es kommt auch zu Irritationen: Einmal deutete ein Kunde auf seine Haare, ich dachte es geht um eine Friseurrente. Ich habe daraufhin recherchiert, ob es eine Frisur- oder Friseurrente gibt. Dann begriff ich: Riester hat einen Haarkranz. Der Kunde meinte die Riester-Rente.
Sie handeln heute mit niedrigeren Summen als früher. Woran liegt das? Haben Gehörlose weniger Geld zur Verfügung?
Früher habe ich mit Millionen gehandelt, heute handelt es sich um wesentlich geringere Summen. Gehörlose haben es wesentlich schwerer auf dem Arbeitsmarkt. Sie leben nicht selten zurückgezogen und sind isoliert.
Welche Töne vermissen Sie?
Ich vermisse das Lachen meiner Enkelkinder; dass ich nicht einfach meinen Papa anrufen kann. Wir haben jetzt eine Webcam, aber es ist eine sehr kalte Form der Kommunikation.
Herr Davis, haben Sie die Hoffnung, jemals wieder hören zu können?
Nein, ich habe gelernt, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind. Anderenfalls würde ich nur immer wieder enttäuscht werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen