die wahrheit: Domina der Stimme
Nicht haut-, aber hauchnah verweilte sie vor mir, eine ranke Frau Anfang dreißig samt wallender Mähne rabenschwarzen Haares. Es war nachts gegen Viertel vor elf ...
N icht haut-, aber hauchnah verweilte sie vor mir, eine ranke Frau Anfang dreißig samt wallender Mähne rabenschwarzen Haares. Es war nachts gegen Viertel vor elf, und es war kein Traum. Der typische Mann in mir spann sabbernd einen Gedankenfaden: die Frau würde eine Domina abgeben. Teufel auch, welchen Herrgottswinkel im schiefen Gebälk sprach das Geschöpf da an? Kurz danach sagte sie energisch: "Mit Gerte geht bei dem gar nichts. Der hört ganz auf Stimme."
Diese denkwürdigen, meine schlichte Fantasie desto heftiger befeuernden Sätze sagte sie in ihr Mobiltelefon, während sie vor mir an der Supermarktkasse die gescannten Süßigkeiten und Knabbereien vom Fließband hinweg mit der anderen Hand in einem Korb verstaute.
Die angesichts der Erscheinung halluzinierte Peitsche ließ sich mit der späterhin aufgeschnappten Gerte verknüpfen, so oder so. Des literarischen Effekts halber stellte ich mir vor, die Instruktion der Frau habe tatsächlich etwas mit jener Tätigkeit zu schaffen, gegen Entgelt sadistische und dominante Praktiken anzuwenden. Aber ich neigte zu der Vermutung, sie widme sich leidenschaftlich der wahrhaftigen Pferdeflüsterei.
Ohnehin wäre es lachhaft, sich ob solcher Assoziationsketten zu genieren. Nicht erst seit vorgestern, sondern spätestens seit de Sade werden Stoßgebete und andere, mehr oder minder vermeintliche Authentizitätsschübe und identitäterä-hafte Geständnisse publiziert. Und in der Ferne bellen unverdrossen die Hunde. Nein, ich langte aus entfernteren Gefilden über Effekte, Konfekte, Infekte, Affekte, schließlich bei Defekten an, eingedenk der Sentenz von Alfred Döblin: "Defekte habe ich wie jeder anständige Mensch."
Im Gedächtnis schwebte ein stürmischer Tag Ende Juli heran, der herbstliches Aprilwetter mit Wintertemperaturen vereinte. Ich las in dem Buch "Alkohol & Author", verfasst von dem Psychiater und empathischen Leser Donald W. Goodwin. Darin fand sich eine geschmeidige These: "Leslie Fiedler zufolge verlangt jedes Zeitalter von seinen genialen Geistern einen verderblichen ,charismatischen Defekt': Blindheit in der homerischen Epoche, Inzest zu Byrons Zeit, Homosexualität im Fin de Siècle und im Amerika des zwanzigsten Jahrhunderts nun eben Trunkenheit."
Goodwin greift zu tauglichen Biografien, von Edgar Allen Poe über Hemingway und Faulkner bis zu Malcom Lowry. Die Schilderungen und der Befund regen an, frischen auf. Einem keineswegs genialen Geist wie mir eröffnete sich in einem lichten Moment die Ergänzung jener Reihe: Im 21. Jahrhundert scheint sich der verderbliche charismatische Defekt in zahllosen Schattierungen der Depression zu veranschaulichen. Um einen Autor statt viele zu nennen, eine Symbolfigur gleichsam: David Foster Wallace.
Dieser Name sagte der Pferdeflüsterin nichts. Inzwischen war sie, wie könnte es anders sein, in die Nacht entschwunden. Charismatisch hallte ihre Botschaft nach: "Mit Gerte geht bei dem gar nichts. Der hört ganz auf Stimme."
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