Streitgespräch: Veganer vs. Flexitarier: "Man muss einen Cut machen!"
Nur halb so viel Fleisch essen - oder gar keins mehr? Katharina Rimpler plädiert für Halbzeitvegetarismus. Christian Vagedes bleibt Vollzeitveganer. Ein Streitgespräch.
sonntaz: Frau Rimpler, können wir Sie als Halbzeitvegetarierin mit einer halben Wurst in der Hand fotografieren?
Katharina Rimpler: Lieber nicht.
Sie finden es eklig, eine Wurst anzufassen?
Rimpler: Ehrlich gesagt ja. Ich esse kein Fleisch. Ich habe aber nicht die Entscheidung getroffen, es nie, nie, nie mehr zu tun.
Sie wollen aber, dass die Leute Fleisch und Wurst essen - nur etwas weniger?
Diesen und weitere spannende Artikel lesen Sie in der nächsten sonntaz vom 24./25. September 2011 – ab Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk oder am eKiosk auf taz.de. Die sonntaz kommt auch zu Ihnen nach Hause: per Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.
Rimpler: Nein, ich will nicht, dass sie weiter Fleisch essen. Bei der Halbzeitvegetarier-Kampagne sagen wir den Leuten, dass es okay ist, wenn sie nicht von heute auf morgen ganz mit Fleischverzehr aufhören, und begleiten sie auf dem Weg, nur noch die Hälfte zu essen.
Gute Idee oder dreht es Ihnen als Veganer da den Magen um, Herr Vagedes?
Christian Vagedes: Wenn jeder nur noch die Hälfte äße, wäre das auch für mich eine gute Botschaft, aber ich traue den Menschen mehr zu.
Was stimmt Sie optimistisch?
Vagedes: Im Moment gibt es immer mehr Menschen, die von heute auf morgen vegan werden und das erkennen, was Ghandi den Geist der Wahrheit genannt hat, dass alles zusammengehört, dass Tiere Schmerzen empfinden und Menschen hungern, weil wir die falsche Ernährung haben.
Warum um die Hälfte reduzieren, wenn man sofort fleischfrei sein kann, Frau Rimpler?
Rimpler: Es gibt Erlebnisse, nach denen manche von heute auf morgen Vegetarier oder sogar Veganer werden. Aber in der Regel ist eine einschneidende Veränderung von Alltagsgewohnheiten ein Prozess - besonders beim Essen. Entweder ganz oder gar nicht: Das ist nicht die produktivste Herangehensweise. Vor allem kann der allmähliche Prozess nachhaltiger sein als die radikale Veränderung.
Inwiefern?
Rimpler: Nehmen Sie Teenager, die in der Schule einen Film gesehen haben, der ihnen erstmals klargemacht hat, was Massentierhaltung ist: Die sind geschockt und hören in der Sekunde auf, Fleisch zu essen. Das kann aber plötzlich wieder vorbei sein. Anders ist es, wenn jemand sich so eine Position im Laufe seines Lebens erarbeitet hat.
Wie kamen Sie an den Punkt, an dem Sie sagten: Ich esse kein Fleisch, aber ich verlange das nicht von allen anderen?
Rimpler: Ich habe erkannt, dass es erstrebenswert ist, dass wir alle weniger Fleisch essen. Ich kenne aber auch die Vorbehalte gegen das, was oft dogmatisch genannt wird und als moralischer Zeigefinger empfunden wird. Ich möchte alle erreichen, und für manche es ist schon eine Herausforderung, einmal die Woche weniger Fleisch zu essen. Also beginnen wir mit einer niedrigen Einstiegsschwelle.
Wenn Millionen Deutsche deutlich weniger Fleisch äßen, wäre das keine radikale Veränderung, Herr Vagedes?
Vagedes: Von der Halbzeitvegetarier-Kampagne geht das falsche Signal aus. Ich weiß nicht, ob sich Frau Rimpler darüber bewusst ist, dass die Flexitarier-Bewegung in den USA von den Lobbyisten der Fleischindustrie unterstützt wird.
Flexitarier sind Menschen, die wenig Fleisch essen.
Vagedes: Nein, der Flexitarier oder Halbzeitvegetarier ist im Extremfall jemand, der einfach guten Gewissens weiter Fleisch isst. Wir können aber sieben Milliarden Menschen auch dann nicht ernähren, wenn wir nur noch die Hälfte Fleisch essen. Wir müssen das grundlegend ändern.
Wie bringt man uns dazu, unsere Essgewohnheiten tatsächlich so individuell-radikal zu ändern, wie Sie das gern hätten?
Vagedes: Wir haben die Alternativen schon da, leckere Würstchen aus Weizen, aus Tofu, sogar aus Lupinen …
… eine protein- und eiweißreiche Hülsenfrucht …
… da kann man sich dran gewöhnen. Wir Veganer leiden ja nicht, wir begeistern uns daran. Uns geht es besser damit. Wenn man Menschen sagt, sie sollen Halbzeitvegetarier oder Flexitarier werden, dann dient das letztlich dazu, die Leute einzulullen und ihre Veränderungsbereitschaft zu schwächen, damit alles so bleibt, wie es ist.
Rimpler: Im Gegenteil. Viele Leute werden dadurch dazu gebracht, weniger Fleisch zu essen und sich generell Gedanken über ihre Ernährung zu machen. Die Alternativen muss man entdecken und genau so, dass man sich damit sogar besser fühlen kann. Das braucht Zeit, bis man zum Lupinenwürstchen kommt. Für jemanden, der sich damit nicht ausführlich auseinandergesetzt hat, ist die Forderung, er solle vegan leben, eine totale Überforderung und abschreckend.
Vagedes: Aber ist das nicht das falsche Signal, zu sagen, "Iss nur die Hälfte", statt "Hör auf"? Angesichts der Tatsache, dass alle fünf Sekunden ein Kind an Hunger stirbt - ist es nicht wichtig, den Menschen genau das zu sagen? Und ist es nicht so, dass Menschen, die sich entschließen, nur noch die Hälfte zu rauchen, irgendwann wieder auf dem alten Stand sind oder sogar doppelt so viel rauchen?
Rimpler: Also, den Zigarettenvergleich mal beiseitegelassen: Dieser Satz des Schweizer Soziologen Jean Ziegler, dass alle fünf Sekunden ein Kind an Hunger stirbt, berührt viele Menschen. Aber wir treffen unsere täglichen Entscheidungen nicht entlang dieser Sätze. Gerade Essen hat viel mit Geschmack und Gewohnheit zu tun - die gute Nachricht ist, dass sich beides ändern kann.
Vagedes: Aber auch beim Abnehmen kommt der Jojo-Effekt. Man muss einen Cut machen. Und dieser Cut bleibt.
Rimpler: Nein, der Jojo-Effekt kommt, weil sie sich mit dem Abnehmen geißeln. Und dann, wenn sie sich nicht mehr geißeln müssen, bricht es los. Weil es von außen auferlegt ist. Innerer Wandel geht Schritt für Schritt. Der funktioniert nicht durch Verzicht, sondern durch die Entdeckung einer Sache, die mir langfristig guttut. Der Weg dahin ist ein Wandlungsprozess.
Vagedes: Die Mehrheit der Leute in Deutschland isst doch eh an manchen Tagen kein Fleisch. Das auch noch zu propagieren, ist eine weitere Verwässerung des ohnehin verwässerten Begriffes Vegetarier. Der als erster großer Vegetarier bekannte Pythagoras lebte im Grunde vegan. Man kann Milch und Eier nicht einfach ausklammern und nur über Fleisch reden. Für Eier werden Milliarden Küken getötet, einfach so. Und für Milch müssen noch mehr Ausnutztiere getötet werden, nämlich auch noch Kälber. Weshalb der Milchumstieg für mich noch zwingender ist als der Fleischausstieg. Jeder, der tierische Produkte isst, hat eine Mitverantwortung für das Leiden dieser Lebewesen.
Rimpler: Es geht um den Weg zum Ziel, und ich glaube nicht, dass man weit kommt, wenn man vegetarisch bereits als Verwässerung bezeichnet. Der Einstieg soll leicht sein, dabei hilft die Fokussierung auf Fleisch. Wir wollen die Leute nicht verlieren, die allergisch auf ein "du musst" reagieren.
Vagedes: Wer sagt das denn?
Rimpler: Einige der ambitionierten Veganer. Sie irren, wenn Sie sagen, die Leute seien in der Regel schon Halbzeitvegetarier. Das ist man nicht, wenn man nicht jeden Tag Fleisch isst, sondern wenn man nur noch die Hälfte von der Fleischmenge isst, die man bisher gewohnt war.
Vagedes: "Müssen" heißt nicht, jemanden in der Sekunde zu verpflichten, etwas nicht mehr zu tun. Wenn ethische Veganer "müssen" sagen, dann wissen sie, dass die Entscheidung in Freiheit geboren ist. Aber sie möchten, dass Menschen nicht darüber hinweggehen. Nicht in ihrem Interesse, sondern im Interesse der hungerleidenden Menschen, der Regenwälder, die abgeholzt werden, des gesamten Planeten und der milliardenfach leidenden Tiere, die ihre Freiheit nur bekommen, wenn wir unsere Freiheit nutzen, um das abzustellen.
Wir sind aufgewachsen mit Großmutters Braten und verbinden häufig schöne und starke Gefühle damit, Herr Vagedes. Vor allem schmeckt es gut.
Vagedes: Dafür habe ich großes Verständnis.
Ich hätte auch gern Lösungen von Ihnen.
Vagedes: Die habe ich. Es gibt die Gerichte der Großmutter alle in vegan. In den USA gibt es sogar Turkey in vegan für Thanksgiving. Wir müssen die kulturellen Codes nicht aufgeben, wir müsen sie nur veganisieren. Wir müssen uns einig sein, dass wir eine vegane Gesellschaft wollen. Dann wird das morgen so selbstverständlich, wie es heute Windräder geworden sind.
Wir sind uns als Gesellschaft nicht mehrheitlich einig, dass wir Windräder wollen oder auch nur akzeptieren. Und dass wir kurz vor einer veganen Gesellschaft stehen, werden Sie nicht behaupten wollen.
Vagedes: Große Veränderungen beginnen immer in kleinen Kreisen, die sich gegen die Mehrheit der Bevölkerung entschlossen positionieren: die Befreiung der Sklaven, die Unterdrückung der Frauen, und jetzt ist die Befreiung der Tiere an der Reihe.
Und was wird der Auslöser?
Vagedes: Irgendwann merken die Menschen, dass es ein krasser Widerspruch ist, seinen Hund oder seine Katze zu streicheln und danach ein Schweinesteak zu essen. Die vegane Dynamik wird beachtlich, das sage ich Ihnen. Wir könnten uns womöglich andere Klimaschutzmaßnahmen sogar sparen durch eine Veganisierung der Welt. Und nun frage ich Sie, Frau Rimpler: Warum kämpfen Sie nicht eine für vegane Gesellschaft?
Rimpler: Ich lebe noch nicht vegan. Ich weiß auch noch gar nicht, ob ich das wirklich will: gar keine Nutztiere mehr. Ich verstehe schon, dass man angesichts der Lage panisch werden kann. Aber ich halte es nicht für produktiv.
Was hat für Sie Priorität?
Rimpler: Es geht darum, dass alle ihr Verhalten ändern. Darum, das Essverhalten eben nicht mehr an Identität zu koppeln. Es ist befreiend, wenn man das auflöst und sich nicht mehr darüber identifiziert, ob man Fleischesser ist oder ein Vegetarier, der nie, nie, nie mehr Fleisch isst.
Vagedes: Aber warum nicht gleich konsequent?
Rimpler: Weil das nicht realistisch ist, dass alle ihr Verhalten gleich konsequent verändern.
Vagedes: Wieso wollen Sie nur aus kulturellen Gründen Ausnutztiere halten, wenn nichts dafür und alles dagegen spricht? Nur weil es angeblich noch nicht an der Zeit ist. Warum ist es noch nicht an der Zeit?
Rimpler: Das ist die Realität. Viele Menschen sehen keinen Grund, ganz mit Fleischessen aufzuhören.
Der Schriftsteller Jonathan Safran Foer ernährt seine Kinder seit der Geburt vegetarisch. Da setzt es bei einigen Eltern schon aus. Manche Ernährungswissenschaftler warnen gar davor, Kinder vegan zu ernähren.
Vagedes: Dieser Diskurs kippt komplett. Das Gegenteil ist richtig. Tierisches Protein ist nicht gesund, sondern ein Gesundheitsrisiko. Mit veganer Ernährung beugt man Krankheiten vor. Natürlich muss das geplant sein.
Wie halten Sie es denn mit Ihren Kindern, Herr Vagedes?
Vagedes: Meine zwei Kinder essen vegan. Die sehen klasse aus und sind auch kerngesund.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ost-Preise nur für Wessis
Nur zu Besuch
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Etgar Keret über Boykotte und Literatur
„Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Verzicht auf Pädagogen in Bremer Kitas
Der Gärtner und die Yogalehrerin sollen einspringen
Grüne Parteitagsbeschlüsse
Gerade noch mal abgeräumt