Kolumne Lustobjekte: Das Tassenorakel
Wer Süßstoff in den Kaffee kippt, ist faul und eitel. Schwarztrinker hingegen sind konsequente Puristen. Wie ich.
W enn man einen Menschen kennen lernt, möchte man gemeinhin so viel wie möglich über ihn wissen, und das in kurzer Zeit. Zu diesem Zweck kann man verschiedene Maßnahmen ergreifen. Erstens: die Bekanntschaft googeln. Zweitens: anhand des ergoogelten Geburtsdatums das Sternzeichen ermitteln und analysieren. Drittens: genau hinschauen, wie besagte Person ihren Kaffee trinkt.
Meine Freundin Nora hat letzte Woche mit einem Süßstoffmann angebandelt. Das machte ihr zu schaffen, denn Nora trinkt ihren Kaffee schwarz. Sie schrieb ihm eine SMS und bat um Aufklärung. Seine Antwort: "Die nächste Bikinisaison kommt bestimmt und ich muss weniger spülen." Etwas ratlos dachten wir über diesen Satz nach.
Dann sagte ich: "Ein Mann, der beim Kaffeetrinken auf seine Figur achtet, ist offenkundig eitel. Und wer das Wort Bikinisaison verwendet, zupft sich auch die Augenbrauen. Brrr." Nora sah das anders: Von seinem gestählten Körper habe sie schließlich auch etwas, und dass er keine Löffel spülen wolle, zeige nur, dass er haushalten kann. "Eine wirklich gute Eigenschaft."
Wenn man jemanden nach seinen Trinkvorlieben analysiert, ist es wie bei allen anderen orakelhaften Methoden auch: Jeder interpretiert hinein, was er will. Nehmen wir meine Freundin Martha. Sie trinkt ihren Kaffee folgendermaßen: ein Drittel Kaffee, zwei Drittel Milch, natürlich geschäumt und auf gar keinen Fall darf sie kochen. Schwierig im Umgang, konservativ in der Struktur. Wie Martha.
ist Redakteurin im Onlineressort der taz.
Vor ein paar Tagen kam sie wieder einmal zu Besuch. Als ich gerade mit einem Topf Milch hantierte und währenddessen die Kaffeepadmaschine anwarf, stieß Martha einen Schrei aus. "Ich trinke keinen Kaffee, das weißt du doch! Nur Espresso." Nun ist meine Espressokanne schon seit Monaten kaputt. Martha war seither oft bei mir gewesen und hatte Kaffee getrunken. Ohne es zu merken. Martha schwieg. Es war kein angenehmes Schweigen. Ich musste an Abraham Lincoln denken, der einmal gesagt hatte: "Sollte dies Kaffee sein, bringen Sie mir bitte Tee. Sollte dies Tee sein, bringen Sie mir bitte Kaffee."
Während ich liebevoll die Kekse drapierte, äußerte ich meine Theorie: Menschen, die ihren Kaffee schwarz trinken, sind unkompliziert. Wie ich. Puristen, die sich ausschließlich auf das Wesentliche konzentrieren, keine Schaumschläger. Martha verschluckte sich vor Lachen an ihrem Milchschaum. "Du bildest dir doch nur ein, dass du eine Laktoseintoleranz hast", sagte sie nicht ohne Häme. "Von wegen unkompliziert."
Mag sein, dass es empfindlich wirkt, wenn man seinen Gast vor die Tür setzt. Eigentlich ist es aber nur konsequent. Eine weitere wunderbare Eigenschaft von Menschen, die ihren Kaffee schwarz trinken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen